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Ein ostdeutscher Exporthit erobert die USA

Von Tina Kaiser 18. Mai 2008, 04:00 Uhr

In ihrem Heimatdorf waren die vier Jungs Außenseiter, heute treiben sie Millionen von europäischen Mädchen in Hysterie und in Plattenläden. Nun will Deutschlands erfolgreichste Popband Tokio Hotel den Durchbruch auf dem härtesten Musikmarkt der Welt schaffen. Es könnte sogar funktionieren

Die Nacht war kurz für Magna und Marsha. Seit dem Morgengrauen stehen die 17-jährigen Zwillinge vor dem Rockefeller Center in Manhattan an. "Zwölf Stunden, im Regen", kreischen sie so glücklich, als hätten sie den ganzen Tag im Freizeitpark verbracht. Ein bisschen bibbern die beiden farbigen Amerikanerinnen, weil sie nur Spaghettihemdchen tragen. Was sie sehen wollen, sind vier Halbstarke aus Loitsche bei Magdeburg. Die treten heute in einer TV-Show auf.

"T-O-K-I-O H-O-T-E-L", schreit Marsha. Vor lauter Aufregung fällt ihr die Handtasche auf den Boden. Make-up-Döschen, Kajalstifte und Lipgloss kullern über den Flur zum Studio. "Aufheben und weitergehen", herrscht eine Ordnerin die Mädchen an. Die Show geht los, Moderator Conan O'Brian kündigt die deutsche Band an. "Tokio what?", flüstert ein älterer Publikumsgast seiner Ehefrau zu. Die zuckt nur ratlos mit den Achseln.

In Europa füllt Tokio Hotel die größten Stadien, nun will Deutschlands erfolgreichste Popband den wichtigsten Musikmarkt USA erobern. Ein etwas kühnes Unterfangen, denn europäische Künstler können sich nur selten auf dem US-Markt durchsetzen. Selbst Superstars wie Robbie Williams oder Ronan Keating werden in den USA weitgehend ignoriert, die Deutschen Nena, Milli Vanilli, Scorpions und Rammstein erzielten einige Achtungserfolge in Amerika. Das war's dann auch schon.

Das wissen die Manager von Universal, dem weltgrößten Plattenkonzern, natürlich nur zu gut. Sie wollen trotzdem mit Tokio Hotel weltweit expandieren. Und so, wie es anläuft, läuft es gut an. Vor zwei Wochen erschien in den USA das erste Album "Scream" (Schrei). Vergangene Woche stieg die Platte auf Platz 39 der US-Billboard-Charts ein. So einen Debüterfolg hatte eine deutsche Band noch nie.

"Die Jungs sind klasse", sagt Frank Briegmann, der Universal in Deutschland leitet. "Mit denen können wir Popgeschichte schreiben." Nichts Geringeres als die Eroberung des kompletten Planeten schwebt ihm vor. Wenn der Durchbruch in den USA tatsächlich klappt, sollen im nächsten Jahr Asien und Südamerika folgen.

Tokio Hotel ist schon jetzt einer der größten Gewinngaranten der Plattenfirma. In einer Zeit, da Musiklabels sonst nur mit einbrechenden Verkaufszahlen von sich reden machen, ist das Gold wert. Ursprünglich war die Band bei der Plattenfirma SonyBMG unter Vertrag. Weil das Label sein Budget für Newcomer kürzte, ließ der verantwortliche Manager den Kontrakt platzen. Universal-Chef Briegmann sicherte sich die Band, der SonyBMG-Manager verlor dagegen seinen Job. Missmanagement muss auch mal bestraft werden.

Die Musiker zwischen 18 und 21 Jahren erwirtschaften laut Branchenschätzungen rund drei Prozent des 300-Millionen-Euro-Jahresumsatzes von Universal Deutschland. Seit der Entdeckung vor drei Jahren hat Tokio Hotel fast fünf Millionen Platten verkauft - das macht etwa 30 bis 40 Millionen Euro Umsatz. Dazu kommt jährlich ein zweistelliger Millionenbetrag durch Fanartikel wie Bettwäsche, Schlüpfer oder Fußmatten. Keine andere deutsche Band verkauft annähernd so viele Devotionalien.

Alle acht Wochen trifft sich Briegmann in London mit den anderen Länderchefs von Universal. Normalerweise reist der 40-jährige Westfale mit einer Liste neuer internationaler Stars zurück nach Berlin, die er in Deutschland verkaufen soll. Doch im Winter 2006 hatte er "das Unglaubliche" im Koffer. Seine Kollegen waren wegen Tokio Hotel ebenso aus dem Häuschen wie die deutschen Mädchen. Als allererste deutsche Band bekam Tokio Hotel den "Priority-Status": Jedes Universal-Land muss die Platten der Magdeburger verkaufen und vermarkten. "Das", sagt Briegmann, "ist wie ein Ritterschlag."

Ein Ritterschlag, der insbesondere für Universal Deutschland auch lukrativ ist. Ohne etwas tun oder finanzieren zu müssen, bekommt die Plattentochter Monat für Monat einen zweistelligen Anteil am US-Umsatz frei Haus aufs Konto überwiesen. Das Modell kennen die Deutschen eigentlich andersherum.

Selbst in Ländern, in denen Universal gar keine Werbung für Tokio Hotel macht, bilden sich dank des Internets Fangemeinden. Israelische Jugendliche sammelten im vergangenen Jahr 5000 Unterschriften, um die Band für ein Konzert nach Tel Aviv zu bewegen.

Tokio Hotel schließt eine Marktlücke, die bislang von der Industrie vernachlässigt wurde. Das Einstiegsalter für ihre Fans liegt bei etwa neun Jahren, viele Konkurrenzmusiker gibt es für diese Zielgruppe nicht. Ein finanziell netter Nebeneffekt ist, dass die Musik meist von den Eltern besorgt wird. Und die neigen noch nicht dazu, Lieder im Internet illegal herunterzuladen. Sie kaufen im Laden richtige CDs, das soll es noch geben.

Nachdem die Teenie-Gruppe fast überall in Europa Tausende von Mädchen in die Ohnmacht und Millionen in Hysterie getrieben hat, sind jetzt die Amerikanerinnen an der Reihe. Seit Anfang Mai sind die Teenager-Helden auf Promotion-Tour in den USA und geben Interviews am Fließband. Das erste Mal auf Englisch, wohlgemerkt. "Wir sprechen ja nur Schulenglisch", sagt Sänger Bill. Das sei ihm schon etwas peinlich. Doch selbst das kommt offenbar gut an. Die Musikzeitschrift "Rolling Stone" lobte jedenfalls, Bills "seltsame Aussprache" sei doch irgendwie charmant.

Als Bill im New Yorker Fernsehstudio den ersten Ton der Single "Ready, Set, Go!" (deutscher Titel: "Übers Ende der Welt") ansingt, fallen sich die Zwillinge Magda und Marsha kreischend in die Arme. Um die Mädchen herum lassen die deutlich älteren Studio-Gäste gelangweilt bis genervt den viel zu lauten Rock-Krach über sich ergehen. Einige halten sich die Ohren zu. Die Schwestern dagegen schauen aus tränenden Augen so verzückt, entrückt, wie es eben nur verliebte Teenies können.

Trotz des ansonsten eher spröden Publikums rockt Bill mit manischer Energie, als hätte er Tausende Fans vor sich. Plattenboss Briegmann ist dieses Talent, aus dem Stand auszurasten, schon 2005 fast unheimlich gewesen. Vor der ersten CD-Veröffentlichung mussten die Jungs vor 300 Universal-Vertriebsmanagern in Berlin ihre Platte vorstellen: "Das ist das undankbarste Publikum, das man sich vorstellen kann, aber die Jungs sind wie alte Profis total abgegangen."

Es sind zwei Dinge, die das Pop-Wunder Tokio Hotel ausmachen: die Texte und die Typen. In ihren Liedern arbeiten sie akribisch jedes Pubertätsthema von Liebe, Selbstmordgedanken bis zur Scheidung der Eltern ab. Ebenso außergewöhnlich sind die Bandmitglieder, allen voran der koboldhaft wirkende, androgyne Sänger Bill mit seiner Stachelschwein-Frisur und dem schwarzen Kajal um die Augen. Sein Frisiertipp: "Eine Dose Haarspray am Tag und nicht kämmen."

Auch wenn er künstlich wirkt, ist er keine Erfindung der Plattenindustrie. Schon mit neun färbte er sich das erste Mal die Haare. Da ist es auch kein Wunder, dass sich Bill und sein Zwillingsbruder Tom (der mit den Dreadlocks) nach eigener Aussage in ihrem 700-Seelen-Heimatdorf wie "Aliens" fühlten. Zusammen mit ihren deutlich stilleren Freunden Georg und Gustav wurde aus den Außenseitern der beste Pop-Export des Landes - ein ostdeutsches Märchen sozusagen. Eines übrigens, von dem vor allem Bill von Anfang an überzeugt war. Der ließ sich das Tokio-Hotel-Symbol in den Nacken tätowieren, schon bevor die erste Platte in Deutschland erschien. Von Bill kam auch die Idee, nach seiner Stimmband-Operation Ende März noch aus dem Krankenbett Interviews zu geben: "Mir war einfach voll langweilig, so ganz ohne Programm."

Schon bei den ersten drei Testauftritten im Februar waren die Clubs in Los Angeles und New York binnen Stunden ausverkauft. Bis zu 2000 Dollar zahlten Fans bei Ebay für Karten, regulär kosteten die Tickets 18,50 Dollar. Die "New York Times" widmete den Jungs eine Titelgeschichte im Feuilleton. Das brachte selbst den sonst wie ein alter Rockstar mit Frauengeschichten prahlenden Tom aus der Fassung: "Ich hab ungefähr hundert Ausgaben der Zeitung gekauft und mit nach Hause geschleppt."

Bei einer Signierstunde in einem Musikgeschäft am Time Square musste der Laden unter dem Andrang von mehr als 500 Mädchen schließen. Magna und Marsha waren auch dabei - sie zelteten dafür zwei Tage vor der Tür. Die beiden Fans haben Tokio Hotel vor vier Monaten im Internet entdeckt. Um auch die deutschen Texte zu verstehen, brachten sie sich mit einem Wörterbuch selber deutsch bei. "Die sind so suuuß", kreischen sie nach dem Fernsehauftritt und trällern gleich noch leicht radebrechend "Durch den Monsun".

Während die beiden Mädchen von einem Ordner nach draußen geschoben werden, führt Plattenchef Briegmann seine Gäste ein paar Straßenblocks weiter. Um den "historischen Moment" zu feiern, hat er eine Gruppe deutscher TV-Manager in die USA eingeladen. In einem Hotel hat die Plattenfirma ein Separee angemietet für ein Treffen mit der Band. Wie Klosterschüler geben die vier Jungs den älteren Herren artig die Hand und bedanken sich fürs Kommen.

Auch diese Show bringen sie zielgruppengerecht perfekt über die Bühne. "Ja, wir waren total aufgeregt", "Wir sind Hammer froh, wie gut das gelaufen ist", "Ne, ne, keine Party heute, auf Tour gehen wir immer früh schlafen", "Klar können wir ein Autogramm für Ihre Nichte schreiben." Einer der Manager freut sich, dass er jetzt ein Foto von sich und den Jungs hat. "Da hat meine Ex-Frau bei unserem Sohn keine Chance mehr."

Dann drängt eine Band-Betreuerin zum Aufbruch: Die Hotelangestellten wollen die Gäste rauswerfen. Sie haben mitbekommen, dass die Jungs noch keine 21 Jahre sind.

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