Stiftung Biografie Willy Brandt Ausstellung Projekte
Startseite
 
Aktuelles
Berliner Ausgabe
Politische Bildung
Publikationen
Willy-Brandt-Preis
Förderung Praktika
Newsletter
Willy-Brandt-Haus
  Lübeck
Expertendienst
 
 
 
Presse
Impressum
Kontakt
Links
English

Rede von Hans-Jochen Vogel vom 21.10.2002

anläßlich der Präsentation des fünften Bandes der Berliner Ausgabe im Literaturhaus der Landeshauptstadt München.


1.

Willy Brandt – und seinetwegen sind wir ja an diesem Ort zusammengekommen – war eine der prägenden Gestalten der jüngeren deutschen Geschichte und in mehr als einer Hinsicht eine einmalige Erscheinung. Mehr als 22 Jahre stand er an der Spitze der deutschen Sozialdemokratie. In dieser Zeit war er von 1966 bis 1969 Bundesaußenminister und von 1969 bis 1974 der erste sozialdemokratische Bundeskanzler. Als solcher brachte er wichtige innere Reformen auf den Weg. Vor allem aber ergänzte er die Westintegration der Bundesrepublik durch eine Ostpolitik, die ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende Übereinkommen mit der Sowjetunion, mit anderen osteuropäischen Ländern und mit der DDR möglich machte, die Lage in Mitteleuropa stabilisierte, die Mauer und den Eisernen Vorhang durchlässiger werden ließ, den Prozeß von Helsinki in Gang setzte und, von heute her gesehen, eine nicht wegzudenkende Ursache für die deutsche Einigung – und man darf getrost hinzufügen: für den Fortgang der europäischen Einigung – darstellt. Diesem Engagement, das in der Verleihung des Friedensnobelpreises seine sichtbarste Anerkennung fand, ist es in erster Linie zu danken, daß die Worte Deutschland und Frieden seit den siebziger Jahren wieder in einem Atemzug genannt genannt wurden. Sein schon dadurch begründetes weltweites Ansehen wuchs in den späteren Jahren noch zusätzlich durch sein Wirken an der Spitze der Sozialistischen Internationale und der Nord-Süd-Kommission der Vereinten Nationen.

Kein Wunder, daß sich mit diesem großen Manne in- und ausländische Publizisten und Historiker schon zu seinen Lebzeiten und sodann nach seinem Tode immer wieder und unter den verschiedensten Aspekten beschäftigt haben. Gegenwärtig erleben wir geradezu eine Art Brandt-Renaissance. Sie hat natürlich auch mit seinem zehnten Todestag zu tun, der gerade erst zwei Wochen zurückliegt. In besonderem Maße wird sie aber durch die Tatsache unterstrichen, daß in kurzem zeitlichen Abstand zwei umfangreiche Biographien Willy Brandts erschienen sind. Die eine mit 320 Seiten von Gregor Schöllgen, die andere, die kürzlich auch in München präsentiert wurde, von Peter Merseburger sogar mit über 920 Seiten. Alltäglich ist das wahrlich nicht und es würde schon reizen, in eine vergleichende Wertung der beiden Arbeiten einzutreten. Aber das versage ich mir schon aus Zeitgründen: Nur so viel sozusagen als Fußnote: Die erste Biographie hat der zweiten nichts weggenommen. Im Gegenteil, sie hat die Erwartungen noch zusätzlich auf die zweite Biographie gelenkt. Und die hat diese Erwartungen erfüllt.

Nunmehr legt die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung den fünften Band ihrer sogenannten Berliner Ausgabe vor. Er ist Bestandteil einer auf zehn Bände angelegten Gesamtdokumentation von Reden, Aufsätzen, Artikeln, Briefen, Aufzeichnungen und Notizen Willy Brandts, von der vier Bände bereits erschienen sind, und befaßt sich unter dem Titel "Die Partei der Freiheit – Willy Brandt und die SPD" mit Brandts Wirken als Parteivorsitzender und dann als Ehrenvorsitzender in den Jahren 1972 bis 1992. Das Gesamtvorhaben und in seinem Rahmen insbesondere auch der Band, der heute im Mittelpunkt steht, sind lebhaft zu begrüßen. Denn hier kommt Willy Brandt unmittelbar zu Wort, und zwar aus der jeweiligen Situation heraus. Das vermittelt Einblicke in den konkreten Ablauf wichtiger Prozesse und läßt erkennen, woran sich Willy Brandt jeweils orientierte und wie er seinerseits Sachverhalte, aber auch Persönlichkeiten in- und außerhalb der Partei und ihre Äußerungen und Aktivitäten zu einem bestimmten Zeitpunkt einschätzte. Anders als in Biographien fließt hier also nicht die subjetive Sicht und Wertung des betreffenden Autors mit ein, sondern das Material wird sozusagen im Originalzustand angeboten. Dafür gebührt der Stiftung, den Herausgebern, dem Dietz-Verlag, den Sponsoren und, in Bezug auf den fünften Band, insbesondere Karsten Rudolph als dem verantwortlichen Bearbeiter Dank und Anerkennung. Herrn Rudolph auch dafür, daß er der eigentlichen Dokumentation eine gut lesbare Einleitung vorausgeschickt hat, die das Verständnis der dann folgenden Einzeldokumente sehr erleichtert.

Nur um meinem Ruf als Oberlehrer gerecht zu werden, erlaube ich mir dennoch zwei kleine Anmerkungen zu zwei in der Einleitung behandelten Punkten, bei denen ich mich für einigermaßen sachkundig halte. Einmal ist von parteiinternen "Streitereien" in München in den siebziger Jahren die Rede. Was damals in München ausgetragen wurde, war aber auch bei zurückhaltender Beurteilung mehr als eine Streiterei – nämlich ein schwerer Konflikt, bei dem es um grundsätzliche Fragen und nicht nur um Begleiterscheinungen eines mühsamen Integrationsprozesses ging. Das sehen übrigens heute alle oder fast alle damals Beteiligten ziemlich einhellig so.

Zum anderen wird das Kontaktsperregesetz von 1977 im Zusammenhang mit Protesten gegen die Einschränkung von Grundrechten erwähnt. Die Proteste gab es. Sie übersahen indes und übersehen auch heute noch, daß dieses Gesetz gerade rechtsstaatlichen Anforderung Rechnung trug, weil es zwar in extremen Situationen bei Häftlingen, die einer terroristischen Vereinigung angehörten, die Unterbrechung des Kontaktes mit der Außenwelt ermöglichte, solche Maßnahmen aber der sofortigen Kontrolle durch den Bundesgerichtshof unterwarf.

Sehen Sie mir nach, daß ich als Initiator dieses Gesetzes, aber auch als Partizipant an den Münchner Auseinandersetzungen dies nicht verschweigen wollte.

Zu den Editionsgrundsätzen habe ich hingegen nichts zu bemerken. Sie scheinen mir dem üblichen Standard zu entsprechen und auch sorgfältig angewandt worden zu sein.

Zur Auswahl der Dokumente könnte ich mich nur äußern, wenn mir die gesamten Bestände bekannt wären. Das ist verständlicherweise nicht der Fall. Bemerkenswert erscheint mir allerdings, daß – soweit es um die Korrespondenz Willy Brandts mit Helmut Schmidt und Herbert Wehner geht – nicht nur die Briefe Willy Brandts aufgenommen worden sind, sondern auch einzelne Briefe der beiden Adressaten, auf die Brandt geantwortet hat oder die sie sonst an Brandt gerichtet haben. Das erleichtert das Verständnis der Brandt’schen Äußerungen. Um so mehr ist zu wünschen, daß Sie, Herr Rudolph, das Projekt, diesen Briefwechsel umfassender zu publizieren, doch noch verwirklichen können.

2.

Die Dokumentation liefert zu vielen Stichworten, die in der Einleitung behandelt worden sind, authentisches Material. So zeigt sie, welche Mühe Willy Brandt aufwandte, um die Partei gegenüber der unruhig gewordenen jüngeren Generation und den sozialen Bewegungen zu öffnen und offen zu halten und die Partei dennoch vor Spaltungen und inneren Kämpfen zu bewahren, die sie auf Dauer gelähmt hätten. Daß ihm das gelang, war wohl seine größte Leistung als Parteivorsitzender.

Bemerkenswert sind auch die Dokumente zum Spannungsverhältnis innerhalb der sogenannten Troika, in der bei allen Konflikten – insbesondere zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner – doch die Kooperation überwog. Meine Einschätzung, die ich erst kürzlich bei der Präsentation der Merseburger’schen Biographie artikuliert habe, sehe ich durch die jetzt publizierten Dokumente eher bestätigt als widerlegt: daß nämlich alle drei Männer nicht primär aus der Perspektive persönlicher Machterhaltung oder persönlicher Empfindlichkeit handelten, sondern daß jeder auf seine Weise unserem Land dienen und für unser Volk das Beste bewirken wollte. Auch ist ja nicht zu bestreiten, daß Herbert Wehner und Helmut Schmidt an den großen Leistungen Brandts wahrlich einen bemerkenswerten Anteil haben. Und insbesondere Wehner für manches, was Brandt bewirken konnte, die notwendigen Voraussetzungen schuf.

Da gegen Herbert Wehner in jüngster Zeit – so etwa in einer ziemlich einseitigen, selektiven und die Gesamtzusammenhänge nicht erfassenden Sendung des WDR – wieder neue Vorwürfe – oder besser gesagt, die alten in zugespitzter Form – erhoben worden sind, füge ich hinzu: Alle Vorwürfe legen Herbert Wehner im Grunde zur Last, daß er die Stalin’schen Säuberungen überlebt hat und nicht ebenfalls erschossen wurde. Ein Vorwurf, den man sich wahrlich dreimal überlegen sollte – vor allem, wenn er siebzig Jahre danach von Personen erhoben wird, die nie in ihrem Leben mit auch nur entfernt vergleichbaren Situationen konfrontiert waren. Auch überzeugt es wenig, wenn Schlußfolgerungen daraus gezogen werden, daß bestimmte politische Wendungen aus Texten, die Herbert Wehner zugeschrieben werden, auch an anderer Stelle – beispielsweise einem Schreiben des NKWD-Chefs Jeschow – zu finden sind. Bekanntlich war die politische Sprache des Kommunismus gerade in der Stalinzeit von Formeln durchsetzt, die völlig einheitlich verwendet wurden. Für stilistische Differenzierungen war da kaum Platz. Wahr ist hingegen, daß manche Widersprüchlichkeit im Wesen und im Auftreten Herbert Wehners – so etwa seine Wutausbrüche und verbalen Ausfälle, die in so starkem Kontrast zu seiner warmherzigen, ja mitunter zarten Hilfsbereitschaft und zu seiner späteren Hinwendung zu christlichen Glaubenswerten standen, auf den tiefen Verwundungen beruhte, die er in den ersten Jahrzehnten seines Lebens gerade auch auf Grund seiner eigenen Irrtümer erlitten und sich auch selbst zugefügt hat, und einer daraus resultierenden Zerrissenheit, die er innerlich nie ganz überwinden konnte.

Aber zurück zu Willy Brandt. Was ihn als Person besonders auszeichnete, war sein unglaubliches Charisma, das auf einer in der Politik wahrlich nicht alltäglichen Verbindung von Machtbewußtsein, Moral, Sensibilität und Glaubwürdigkeit beruhte, und das ihm auch in Zeiten schwerer Rückschläge und Depressionen nicht abhanden kam. Selbst die Dokumente lassen das an manchen Stellen erkennen; zumindest zwischen den Zeilen und zumindest für die, die ihm damals nahe waren. Übrigens hat auch die weder davor noch danach jemals wieder erreichte Beitrittswelle der Jahre 1971 und 1972 viel mit diesem Charisma zu tun. Nicht umsonst spricht man noch heute von Willy-Wählern und Brandt-Beitritten.

Andere Stichworte will ich nur erwähnen. Etwa Brandts Fähigkeit zum Ausgleich und zum Dialog, seine Würdigung der sozialliberalen Koalition als Endpunkt einer historischen Entwicklung, die das liberale Bürgertum und die Sozialdemokratie nach einem Jahrhundert der Zweckbündnisse, der Distanz und der Gegnerschaft zu wirklichen Partnern werden ließ; eine Würdigung, die aus heutiger Sicht wohl durch das Wort "vorübergehend" ergänzt werden müßte; oder sein Verhältnis zur deutschen Einheit, das in der Artikulation dieses Zieles verschiedene Phasen durchlief, das Ziel selbst aber nie aus den Augen verlor. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen.

Ein Stichwort, auf das ich gestoßen bin, möchte ich aber doch noch aufgreifen. Das ist das Stichwort Bodenrecht und Bodenrechtsreform. Mir gegenüber hat Willy Brandt sogar einmal gesagt, das sei nach den Ostverträgen sein großes Reformprojekt für die zweite Amtszeit.

Als zuständiger Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau habe ich versucht, dem Projekt nach Kräften voran zu helfen. Aber die Widerstände waren trotz oder vielleicht gerade wegen der engagierten, ja bisweilen radikalen verbalen Begleitung aus bestimmten Teilen der Partei heraus zu stark. Da die entscheidende Phase überdies mit dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler zusammenfiel und andere Themen in den Vordergrund drängten, reichte es nur zu einigen Korrekturen der einschlägigen Gesetzte. Heute ist das Thema so gut wie vergessen. Ich verhehle nicht, daß ich das bedauere, und den ebenso vergessenen Satz in Artikel 161 der bayerischen Verfassung

"Steigerungen des Bodenwerts, die ohne besonderen Arbeits- und Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen"

nach wie vor für ein Gebot der Vernunft und der sozialen Gerechtigkeit halte.

Eine Dokumentation kann die Vergangenheit erhellen. Kann sie auch Orientierung für die Zukunft geben? Ich meine: Ja. Wenn sie Gedanken eines Mannes wiedergibt, der zu seiner Zeit weit in die Zukunft geblickt hat. Und das trifft für Willy Brandt in hohem Maße zu.

Da finden sich dann etwa in einem Aufsatz Willy Brandts aus dem Jahre 1990, den er in seiner Eigenschaft als Präsident der Sozialistischen Internationale geschrieben hat, Sätze wie diese:

  • "Wir sind für wirtschaftlichen Wettbewerb, aber gegen eine blinde Anbetung des Marktes im allgemeinen und des Weltmarktes im besonderen."

oder

  • "Die ungerechte Ordnung der weltwirtschafts- und internationalen Finanzbeziehungen und die hohen Aufwendungen für militärische Zwecke in vielen Teilen der Welt verhindern Entwicklungsfortschritte, durch die wenigstens die Grundversorgung gesichert werden könnte. Dieser Zustand verletzt die menschliche Würde durch tägliche Bedrohung des Lebens."

Und schließlich an anderer Stelle:

  • "Was wir brauchen, sind eine Neuordnung der weltwirtschaftlichen Beziehungen und entsprechende internationale Institutionen, in denen die Interessen aller Beteiligten ..... angemessen zur Geltung kommen."

Mit anderen Worten war die soziale Frage für Willy Brandt schon damals zu einer globalen Frage geworden. Wir Heutigen sollten das beherzigen. Und die Sozialdemokraten unter uns sollten sich gelegentlich auch an eine andere Botschaft Willy Brandts erinnern, die er nicht allzu lange vor seinem Tod so formulierte:

  • "Die Sozialdemokratie muß an der Utopie einer sozialen Ordnung ohne Ausbeutung, ohne Erniedrigung, ohne Not und an der Vorstellung von einer Gesellschaft der Freien und Gleichen festhalten, in der die freie Entwicklung eines und einer jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller bleibt. Die Sozialdemokratische Partei wäre zu wenig nutze, wenn sie die reelle Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft nicht hätte und nicht weiter trüge."

Gerade jetzt, nachdem die Wählerinnen und Wähler der deutschen Sozialdemokratie am 22. September den Auftrag erteilt haben, ihre Regierungstätigkeit fortzusetzen, sollte sich unsere Politik an dieser konkreten Utopie orientieren. Im nationalen und im europäischen Bereich, aber auch auf der globalen Ebene, auf der wir mehr denn je gefordert sind. Denn wir sind mit verantwortlich dafür, daß die schreiend ungerechte Verteilung von Macht und Wohlstand auf unserem Erdball und damit die eigentliche Ursache von Terror und Gewalt Zug um Zug überwunden wird. Es geht dabei im Grunde um denselben Reformprozeß, der sich vor allem dank der sozialdemokratischen Anstrengungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in unserem eigenen Land abgespielt hat. Darum können und sollten wir auch auf die dabei gewonnenen Erfahrungen zurückgreifen.

So verstanden, ist der Dokumentenband, der uns hier vorliegt, nicht nur ein Gewinn für Historiker und Archivare. Vielmehr ist er auch eine Hilfe für die Bewältigung der Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen.

 

 



 
Presse Impressum Kontakt Links English