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ein paraphilosophisches Projekt
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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 1, Heft 1 (1934)

 Band 1, Heft 1 (1934) 
Umschlagseite II Die Redaktion: An den Leser!
1 Zur Einführung
4 Wilhelm Reich: Zur Anwendung der Psychoanalyse in der Geschichtsforschung
16 E[rnst] Parell [Wilhelm Reich]: Was ist Klassenbewusstsein? (Teil 1)
29 Wilhelm Reich: Der Orgasmus als elektrophysiologische Entladung
43 Otto Fenichel: Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektisch-materialistischen Psychologie
62 E[rnst] Parell [Wilhelm Reich]: Einwände gegen Massenpsychologie und Sexualpolitik (1. Teil)
70 J.H. Leunbach: Religion und Sexualität
73 A.R.: Bericht aus Wien
74 "Unpolitische" Wissenschaft: Zitat des Psychoanalytikers Richard Sterba / Nachdruck des Artikels »Psychoanalyse und Weltanschauung« von Carl Müller[-Braunschweig] aus dem »Reichswart« v. 22. Okt.1933
77 Aussprüche und Erlebnisse
78 J.H. Leunbach: Sexpol-Bewegung
79 Marxismus - Ideologie - Psychologie (Lenin-Zitate)
81 Rezensionen:
Zeitschrift »Le problème sexuel« (K.M.)
Walter Kolbenhoff: Untermenschen (Observer)
86 Redaktionelle Bemerkungen


Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 1 (1934), Heft 1, Umschlagseite II

An den Leser!

Die Redaktion der »Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie« hat den ernsthaften Willen, ein Organ zu schaffen, das imstande sein wird, die Kompliziertheit und Problematik des gesellschaftlichen Prozesses widerzuspiegeln und darüberhinaus Theorie und Praxis untrennbar zu verbinden. Unumgängliche Voraussetzung hierfür ist ein Leserkreis, der sich nicht damit begnügt, die hier veröffentlichten Arbeiten mehr oder minder verständnisvoll aufzunehmen, sondern ein Leserkreis, der entschlossen ist, durch sachlich-fruchtbare, vorwärtsdrängende Kritik einerseits und Anwendung der Theorie in der Praxis andererseits dem gleichen Ziele zuzustreben. Nur auf diese Weise kann das notwendige Handwerkszeug geschmiedet werden, das geeignet sein wird, die revolutionäre Arbeiterbewegung zu befähigen, ihre historische Aufgabe zu vollenden: Bewahrung der zivilisierten Menschheit vor dem Sturz in den Abgrund der Barbarei und Erkämpfung der historisch notwendig gewordenen sozialistischen Gesellschaftsform. Hierzu kommt als weitere Aufgabe aller Interessenten die Beschaffung der notwendigen Geldmittel, um Aufrechterhaltung und Aufbau der Zeitschrift zu sichern. Niemand, dem auch nur annähernd klar geworden ist, welche Riesenaufgabe der Menschheit im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Zwang zur sozialen Revolution gestellt ist, wird sich über die Tatsache verwundern, dass diese Aufgabe nur durch entschlossene Opferbereitschaft in jeder Hinsicht erfüllt werden kann. Niemand, der gleich uns überzeugt ist, dass die hier vertretenen Ansichten richtig sind, wird sich dieser Aufgabe entziehen können.

Die Redaktion


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 1, S. 1-4

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Zur Einführung

Die Zeitschrift, deren erste Nummer wir hiermit der Öffentlichkeit übergeben, stellt sich die Aufgabe, die Untersuchungsmethode des dialektischen Materialismus auf dem Gebiete der Sexualökonomie und Massen-Psychologie konsequent anzuwenden. In bewusster Ablehnung welt- und politikabgewandter, einsiedlerischer Gelehrsamkeit soll in engstem Kontakt mit den historischen und aktuellen Fragen der Arbeiterbewegung Theorie aus ihrer Praxis geschöpft werden und zu neuer, besserer und der Wirklichkeit angepassterer Praxis hinführen. Die Trennung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft von Weltanschauung oder Politik lehnen wir ab. Wer die Auffassung, Politik sei parlamentarisches Debattieren oder Biergläserargumentation, abgestreift, wer erkannt hat, dass Politik die Praxis des gesellschaftlichen Geschehens, also praktische Soziologie ist, der wird auch die These von der Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Politik fallen lassen. Nicht nur ist das Schicksal der Wissenschaft und ihrer Vertreter in persönlicher und sachlicher Hinsicht an das Schicksal der Arbeiterbewegung geknüpft (vgl. Einstein, Goldstein, Zondek, etc., etc.), es gibt keine Rettung für sie ausser den Sieg der Schaffenden über das Verhängnis der kapitalistischen Wirtschaftsgesetze, und umgekehrt: das Schicksal der Arbeiterbewegung ist bestimmt vom Erfolg der wissenschaftlichen Arbeit, die zu keinen Konzessionen an die Einschränkungen durch die bürgerliche Weltanschauung bereit ist. Das gilt auch für die Sozialwissenschaft im allgemeinen und die Sexualökonomie im besonderen. Jede neue Entdeckung auf diesen Gebieten hat fast unmittelbare revolutionäre Konsequenzen. Das liegt in der Natur ihrer Gebiete. Dass die wissenschaftliche Forschung in der Arbeiterbewegung brachlag, dass der Satz: "Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis" nicht Wirklichkeit wurde, hat mit zur schweren Niederlage der Arbeiterbewegung beigetragen. Umgekehrt hat die akademische Isolierung der wissenschaftlichen Forschung, ihre Unbewusstheit von ihrer gesellschaftlichen Stellung und

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Funktion verheerende Wirkungen auch für die "Forschung an sich" gehabt. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass die echten Forscher, die die Erkenntnis des Naturprozesses vorwärtstreiben, sich nicht zu ihrer gesellschaftlichen Funktion bekennen wollen und aus diesem Grunde regelmässig an bestimmten Stellen ihrer Theoriebildung scheitern, während die der politischen Reaktion ergebenen Wissenschaftler kein Hehl aus ihrer Gesinnung machen und bewusst ihre Arbeit mit ihrer reaktionären Gesinnung verbinden; man denke etwa an die Rassetheoretiker, die Eugeniker, an Manifestationen wie die des Chirurgen Sauerbruch, an die Geisteswissenschaftler und Psychologen wie etwa Spranger, Klages, Prinzhorn, Heidegger u.a. Woher diese Bewusstheit der einen und die politische Naivität der anderen, die jene sachlich weit überragen? Ein Problem für sich, das in den Rahmen des Programms dieser Zeitschrift fällt. Wir wollen der bewusst reaktionären Wissenschaft eine bewusst revolutionäre entgegenstellen, die sich zu den Zielen der Arbeiterbewegung offen bekennt und sich in deren Dienst stellt. Wir werden mit Leichtigkeit beweisen können, dass wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, nichts anderes zu tun haben, als voraussetzungslos wissenschaftliche Arbeit zu treiben; dagegen muss der reaktionär gesinnte Wissenschaftler, um seine soziologische Rolle zu erfüllen, die Wahrheit verhüllen, abbiegen, mit Mystik durchsetzen, kurz solchermassen die primitivsten Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeit verleugnen. Wir werden mit der gleichen Leichtigkeit nachweisen können, dass die Trennung von Sein und Sollen künstlich ist, dass das Sollen mit Eigengesetzlichkeit aus der Erkenntnis des Seins hervorgeht, was nur durch Bruch mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit verhindert wird. Konsequente, unbeirrte Wissenschaft ist an sich revolutionär, entwickelt automatisch praktische Konsequenzen, und die sozialistische Politik ist im Grunde nichts anderes als die Praxis der wissenschaftlichen Weltanschauung. Gegen die Macht der Mystik und Religiosität in allen ihren Formen, auch ihren "wissenschaftlichen" Drapierungen, ist die Parole zu setzen: Die revolutionäre Wissenschaft an die Macht. Und die sozialistische Praxis der Arbeiterbewegung muss wieder das werden, was sie im Sinne ihrer Begründer sein sollte, die in Praxis umgesetzte Erkenntnis von den Bedingungen und Grundlagen des menschlichen Seins. Nur weil die wissenschaftliche Arbeit im sozialistischen lager einrostete, weil sie nicht gepflegt und gefördert wurde, wurde sie nicht Anziehungspunkt für die intellektuellen Kreise, schwankten diese Kreise zwischen Hoffnungslosigkeit und intellektueller Überheblichkeit hin und her. Wenn wir beweisen werden, dass die wahre Wissensschaft, von der das Bürgertum schwärmt, in Wirklichkeit, d.h. ihrer Methode und ihrer soziologischen Funktion nach, im sozialistischen Lager steht, werden die Wissenschaftler ihren richtigen Platz eher einnehmen.

Die Gründer dieser Zeitschrift bilden eine kleine Gruppe marx-

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istisch geschulter Wissenschaftler, die, von der politischen Reaktion verfolgt, wenig Geldmittel, keinerlei Protektion, Feindschaft der Lehrkanzeln und eigenen Fachorganisationsleitungen gegen sich und die reichhaltigste Problematik des menschlichen Seins sowie die Methode des dialektischen Materialismus für sich haben. Die Existenz der Zeitschrift und ihre Fortführung sind somit auf die Durchschlagskraft korrekter wissenschaftlicher Arbeit und die Sympathie und praktische Hilfe derer angewiesen, die wissen, wo die Wissenschaft und der Wille zur sozialen Befreiung im internationalen Masse stehen, die erkennen oder noch erkennen werden, um welche Entscheidungen in unserem jahrhundert gerungen wird.

So klein der Kreis der Mitarbeiter noch ist, so gross und mannigfaltig ist das Gebiet der dialektisch-materialistischen Psychologie. Da die menschliche Aktion in allen ihren Formen von sexueller Energie gespeist ist, versteht sich von selbst, dass die Sexualökonomie, die Lehre von den individuellen und gesellschaftlichen Gesetzen des Sexualitäts-Prozesses, eine zentrale Stellung einnehmen wird. Aus den Ergebnissen der sexualökonomischen Forschung, die die Beziehungen der biologischen Sexualfunktion zur gesellschaftlichen Ordnung und Abänderung dieser Funktion behandelt, geht nicht nur die praktische Bewältigung der Probleme der Sexualreformbewegung hervor, die wir im Gegensatz zu den bisherigen sexualreformerischen Bestrebungen Sexualpolitik nennen wollen; neben der Sexualpolitik entfaltet sich das Gebiet der politischen Psychologie; insofern nämlich die pathologische Sexualstruktur des Menschen in der privatwirtschaftlichen Epoche die mystischen Mächte der Religiosität und der faschistischen Ideologie begründet und somit den gesellschaftlichen Tendenzen zur sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft entgegenwirkt, greift die Sexualökonomie und engere Sexualpolitik in die allgemeine, umfassendere Politik der wirtschaftlichen und staatlichen Ordnung ein. Danach ergibt sich grundsätzlich zweierlei: erstens eine Diskussions- und Sammlungsbasis für die verschiedenen, zersplitterten, von keinem einheitlichen Gedanken und Ziel gelenkten Richtungen der Sexualreformbewegung zu schaffen; zweitens der massenspsychologischen Beobachtung und Praxis in der Politik diejenige Stellung zu sichern, die ihr zukommt.

In erster Linie zwingen die politischen Ereignisse und Niederlagen der sozialistischen Bewegung, das Problem des Klassenbewusstseins zu konkretisieren, da uns das Miterleben der Klassenkämpfe der letzten anderthalb Jahrzehnte überzeugte, dass der mangel einer dialektisch-materialistischen Psychologie einer der wichtigsten Gründe für den Stillstand, ja Rückgang der internationalen Befreiungsbewegung ist.

Die praktische Brauchbarkeit massenpsychologischer und sexualökonomischer Erkenntnisse kann sich nicht immer, wahrscheinlich nur selten sofort erweisen. Doch bedarf das Unternehmen der Schaf-

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fung einer dialektisch-materialistischen Psychologie keiner besonderen Rechtfertigung, wenn sich die politische Reaktion bei kompletter Erschütterung ihrer ökonomischen Struktur und Basis so glänzende Erfolge mit massenpsychologischen Mitteln sichert; sofern es uns nur gelingen wird, nicht in abstrakte, akademische, den zentralen Fragen ausweichende "reine" Forschungsarbeit abzugleiten, sofern wir am Prinzip festhalten werden, von den zentralen Fragen der menschlichen Praxis auszugehen, um sie mit besseren Erkenntnissen besser zu bewältigen, wird sich die fruchtbarkeit der Arbeit erweisen. Das will nicht besagen, dass wir die abstrakte theoretische Forschung ablehnen; im gegenteil, die Pflege, Erhaltung und korrekte Fortführung der bürgerlichen naturwissenschaftlichen Arbeit auch auf theoretischem Gebiet wird uns besonders wichtig sein. In Forschungen von der Art, wie sie etwa auf physiologischem Gebiet Fr. Kraus, auf biologischem Max Hartmann, auf psychologischem Sigmund Freud geleistet haben, liegt die zu entwicklende Zukunft der dialektisch-materialistischen Naturwissenschaft.

Der des dialektisch-materialistischen Denkens und Verhaltens nicht Gewohnte wird beim Lesen dieses Programms erstaunt sein über das Vorhaben, so verschiedenartige Spezialgebiete einzubeziehen, dann aber auch nicht begreifen, was alle diese hohen Tätigkeiten menschlichen Geistes mit der Arbeit politischer Psychologen zu tun haben sollen. Zu zeigen, dass unser Unterfangen nicht etwa eine Marotte von Laien und Wirrköpfen ist, sondern dass dies alles zusammenhängt, einander gegenseitig beeinflusst und nicht zuletzt über die Zukunft der menschlichen Lebensgestaltung zu entscheiden hat, ist eben die Aufgabe dieser Zeitschrift.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 1, S. 43-62

Otto Fenichel:
Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektisch-materialistischen Psychologie

Wer eine dialektisch-materialistische Psychologie anstrebt, muss ständig gegen zwei Fronten kämpfen: einmal gegen den Idealismus, der das Seelische dem Körperlichen prinzipiell entgegenstellt und es für etwas irgendwie Grundlegenderes, "Höheres", "Jenseitigeres" hält; und gegen eine falsche materialistische Auffassung -- wir würden sie eine pseudo-materialistische nennen --, die am liebsten die Existenz des Seelischen überhaupt leugnen möchte. Während innerhalb der psychologischen Fachwissenschaft zweifellos die erste Front die weitaus bedeutsamere ist, erscheint es immer noch sehr nötig, in Kreisen der Anhänger des historischen Materialismus auch die zweite nicht aus dem Auge zu lassen.

Es ist kein Zweifel, dass man in diesen Kreisen vielfach einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber der Psychologie überhaupt begegnet. Man muss feststellen, dass dieses Misstrauen sachlich durchaus ungerechtfertigt, wenn auch angesichts dessen, was die meisten bisherigen psychologischen Schulen als Wissenschaft ausgaben, begreiflich ist.

Was sie lehrten, kann im weitaus überwiegenden Prozentsatz nicht zur Naturwissenschaft gerechnet werden, sondern bezeichnet sich selbst als "Geisteswissenschaft"; an den Universitäten wird die Psychologie nicht in Verbindung mit der Biologie, sondern mit der "Philosophie" unterrichtet. Sieht man sich manche Lehrbücher philosophischer Psychologie an, so wird man in der Fülle der dort spekulativ erörterten metaphysischen Probleme von der Willensfreiheit, von

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den Eigenarten der Seele, ja beinahe von der Unsterblichkeit, die Abkunft von Bereichen, die früher einmal dem Theologen gehörten, deutlich bemerken. Die schroffe Gegenüberstellung von "Körper" und "Seele" enthält immer versteckt die Gegenüberstellung von Menschlichem und Göttlichem, von Natürlichem und Übernatürlichem. Es ist ja auch noch nicht so lange her, dass religiöse Vorurteile die wissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Körpers durch den Anatornen verhinderten; während aber Anatomie und Physiologie sich zum grossen Teil von diesen Vorurteilen freigemacht haben, ist die Psychologie noch in hohem Masse von ihnen durchtränkt.

Aber nicht nur idealistische Denkweisen charakterisieren viele psychologische Schulen, sondern auch das damit in Zusammenhang stehende völlige Übersehen der gesellschaftlichen Realität und ihrer Bedeutung. Das konkrete Denken und Fühlen der Menschen wird vielfach betrachtet, als schwebte es "an sich" in der Luft, unabhängig von der konkreten historischen und gesellschaftlichen Situation, in der sich der denkende oder fühlende Mensch befindet.

Aus diesen Gründen nannten wir das Misstrauen des Materialisten gegen die Psychologie verständlich. Es ist aber dennoch unberechtigt.

Von einem materialistischen Anatomen wird erzählt, er habe, als von seelischen Phänomenen die Rede war, gesagt: "Ich habe in meinem Leben 5000 Leichen seziert und nie eine Seele gefunden." Bekannt ist auch das Schlagwort des Aufklärungs-Materialismus: "Seele ist Sekretion des Gehirns."

Der Anatom hat unrecht; denn nicht nur das ist wirklich und "materiell", was man sehen, sondern das, was man durch unmittelbare Erfahrung oder durch mitteIbaren zwingenden Schluss wahrnehmen kann. Der Anatom hat zwar in der Leiche keine Seele gefunden, aber er hat, wie jeder Mensch, gefühlt und gedacht, Freude und Schmerz empfunden etc. Die Wirklichkeit der Daten unseres Bewusstseins ist keine geringere als die der äusseren Natur; sie ist nur in manchen Eigenschaften von ihr unterschieden (sie ist z.B. im Raume nicht ausgedehnt). Was das Wort vqn der "Sekretion des Gehirns" betrifft, so ist es zwar biologisch nicht gerechtfertigt, aber selbst wenn wir davon absehen, müssen wir fragen: Folgt aus der Erkenntnis, dass die Galle ein Sekretionsprodukt der Leber ist, dass nur mehr Leberanatomie Wissenschaft ist, nicht aber physiologische Chemie der Galle? Das Zustandekommen des seelischen Geschehens mag an die Funktion des Gehirns ebenso geknüpft sein wie die Entstehung der Galle an die der Leber. Dennoch ist dieses so entstandene psychische Geschehen ein Naturprodukt, dessen eigene Gesetzlichkeit nach naturwissenschaftlichen Kriterien ebenso studiert zu werden verdient wie die Eigengesetzlichkeit der Galle.

Es muss also klar sein, dass die Auffassung, der Materialist glaube nur an das "Körperliche", sich für das Psychische aber zu interessieren wäre idealistisch, grundfalsch ist. Eine solche Auffassung ist

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selbst bereits Folge einer idealistischen Denkweise, die Körperliches und Seelisches als unüberbrückbaren, Gegensatz gegenüberstellt. Nein, Materialist ist derjenige, der die Wirklichkeit dort, wo er sie findet -- und er findet sie in den Daten der inneren Wahrnehmung ebenso wie in denen der äusseren --, als solche anerkennt und ihre Gesetzmässkeit und Entwicklung ohne "Jenseits" aus den ihnen immanenten Bedingungen zu verstehen sucht. Dass Marx nicht anders gedacht hat, lässt sich durch zahlreiche Zitate belegen; hier genügt es, daran zu erinnern, dass als die materiellste Basis, die den Produktionsprozess überhaupt in Gang setzt, mit Recht die menschlichen Bedürfnisse gelten; und diese Bedürfnisse sind (wenn auch, wie gleich zu besprechen sein wird, aus somatischer Quelle stammend) psychischer Natur.

Eine materialistische Psychologie anerkennt die Existenz des Psychischen als eines eigenen Bereiches der Natur und bemüht sich, die speziellen Formen, in denen dieses Psychische auftritt, aus der materielIen Wirklichkeit, in der der Träger dieses Psychischen steht (aus seinem Körper sowohl als auch aus seiner konkreten Umwelt, die durch Erlebnisse einwirkt) zu erklären.

Das Psychische ist wirklich, denn es ist der inneren Wahrnehmung unmittelbar gegeben. Aber was hat man mit dieser Gegebenheit bisher gemacht und was könnte und sollte man machen? - In langsamer Entwicklung setzt sich das naturwissenschaftliche Denken gegen das religiöse durch. Die Naturwissenschaften, entstehend und sich weiter entwickelnd an bestimmten Stellen der Entwicklung der menschlichen Produktionskräfte, an denen ihr Auftreten eine technische Notwendigkeit wird, beschreiben und erklären die wirklichen Phänomene. Ohne viel Philosophie und Kenntnis theoretischer Auseinandersetzungen ist klar, was dabei unter "wirklich" und was unter "erklären." gemeint ist. "Wirklich" ist, was in unserer Erfahrungswelt gegeben ist, wobei wir uns nicht einen Deut dafür interessieren, ob es eine metaphysische Welt jenseits unserer Erfahrung geben könnte. Und ein Phänomen "erklären", heisst, Voraussagen über seinen Verlauf machen, bzw. es technisch benutzen können. In Physik oder Astronomie gibt es keine "Moral", sondern nur ein "richtig" oder "falsch". Zwar wissen wir, wie begrenzt auch die Möglichkeit des "naturwissenschaftlich Wahren" ist; die "reine Wahrheit" ist eine Fiktion der bürgerlichen Wissenschaft. Selbstverständlich sind die Kenntnisse im Bereich der Physik auch davon abhängig, in welcher Höhe, von wem und zu welchem Zwecke die physikalischen Institute subventioniert werden. Dennoch gehört diese Fiktion eben zum Wesen der bürgerlichen Wissenschaft, und keinem Menschen würde es je einfallen, eine physikalische Publikation damit widerlegen zu wollen, dass man sagte, ihre Resultate wären unschön oder unsittlich. -- Ganz anders benimmt sich die Öffentlichkeit gegenüber der seelischen Wirklichkeit. Hier soll es keine Kausalität, keine Quantität, keine Gesetzmässigkeiten geben. Vor-

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stellungen vom Odem Gottes, der den Menschen eingehaucht wurde, und den mit denselben irdischen Mitteln zu untersuchen wie den Körper Frevel wäre, spuken in leicht veränderter Gestalt -- etwa in Form des Begriffes "Geist" -- noch überall herum. Man kann das auch so sagen: Man hat einige Differenzen der Gegebenheiten "physische Welt" und "psychische Welt" tendenziös verabsolutiert, ihre Übereinstimmungen aber -- beide sind Natur und müssen mit denselben naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen untersucht werden -- ausser Acht gelassen. Eine marxistische Kritik, die darlegte, warum dem so ist, wäre nicht allzu schwer, würde uns aber an dieser Stelle zu weit abführen.

Fordern wir, dass auch die psychische Wirklichkeit in der gleichen Weise wie die übrige Natur wissenschaftlich erfasst werde, so müssen wir zwei Fragen beantworten:

1. wie man das macht, 2. zu welchem Zwecke man das machen soll.

Wir täten der Geschichte der Psychologie unrecht, wollten wir behaupten, dass diese stets nur aus philosophischen Spekulationen bestanden habe. Es gab und gibt verschiedene psychologische Richtungen, die man der Art ihres Denkens nach als naturwissenschaftlich bezeichnen muss. Als Vertreter dieser Richtungen nenne ich die experimentelle Psychologie, die ihrerseits keineswegs ein einheitliches Gebilde ist, sondern vielerlei Denkweisen und Forschungsrichtungen umfasst; auch die in der Sowjetunion betriebene Reflexologie könnte man hierher rechnen; ferner die Psychophysik. Weder die experimentelle Psychologie noch die Psychophysik scheinen uns auch nur im geringsten die Kriterien zu erfüllen, deren Beachtung man von einer dialektisch-materialistischen Psychologie fordern muss. Jene mag wissenschaftlich einwandfrei sein und daher gewiss auch dialektischem Denken entsprechende ForschungsresuItate liefern, aber sie umfasst immer nur die eine oder andere aus dem Zusammenhang isolierte psychische Funktion oder irgendwelche Details des Erlebens. Das, was man im Alltag "Erleben" heisst, die ganze Kompliziertheit des menschlichen Seelenlebens und seiner Motivation, bleibt ihr unzugänglich. Diese analogisiert vielfach in pseudomaterialistischer Art allzu sehr das Psychische und das physikalische Geschehen. -- Könnte es eine Forschungsweise geben, die die ganze komplexe Natur der wirklichen Erlebnisfülle, wie sie bisher wissenschaftlicher Erfässung nicht zugänglich war, sondern nur von Dichtern intuitiv geschildert wurde, naturwissenschaftlich angeht und schliesslich zu einer psychologischen Prognostik und Technik (Menschenbeeinflussung) strebt, deren Sicherheit der physischen Prognostik und Technik nicht nachsteht ?

Was müssen wir von einer solchen Psychologie fordern ?

1.) Sie muss sich der Biologie einordnen. --Psychisches Geschehen tritt nur am lebenden Organismus auf; es ist ein Spezialfall des lebendigen Geschehens. Die allgemeinen Gesetze, die- für das lebendige

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Geschehen gelten, müssen auch für das Psychische Geltung haben. Dazu kommen spezielle Verhaltungsweisen des Psychischen.

2.) Sie untersucht wie jede Naturwissenschaft Gesetzmässigkeiten, begnügt sich also nicht mit der blossen Beschreibung einmaliger Abläufe. Ihr Gegenstand ist nicht die Person X da, sondern das Regelmässige im menschlichen Seelenleben: Unter welchen Umständen treten die Erlebnisse a, b, c auf ? Welche Kräfte haben auf Erlebnisweise und Erlebnisinhalt Einfluss ? In welcher Weise nehmen sie Einfluss und wie sehen die Resultate aus ?

3.) Eine materialistische Psychologie ist absolut wertfrei. In ihr gibt es nicht gut und böse, sittlich und unsittlich oder ein Sollendes überhaupt, sondern ihr sind gut und böse, sittlich und unsittlich und Soll Denkweisen der Menschen, die als solche in ihrer Entstehung aus materiellen Voraussetzungen zu erforschen sind. Sie lässt in keiner Verhüllung irgendein "Jenseits" wieder in ihren Bereich ein.

Ist das psychische Geschehen prinzipiell aus materiellen Bedingungen heraus zu verstehen, die ihm zugrunde liegen, so kann es ja nur zweierlei solcher Bedingungen geben, auf deren Zusammenspiel den jeweiligen Untersuchungsgegenstand zurückzuführen einzige Aufgabe der materialistischen Psychologie ist: Erstens die biologische Gegebenheit des betreffenden Organismus, deren Zustandekommen ihrerseits nicht mehr von der Psychologie, sondern von der biologischen Entwicklungsgeschichte, der sogenannten Phylogenie, zu ergründen ist; und zweitens die Umwelt, welche auf diese biologische Struktur einwirkt. Schon diese einfache Überlegung zeigt uns, an welchen Stellen offenbar allein die grundlegende Brücke vom Spezialfall Psychologie zur Biologie zu schlagen ist: Alle lebende Substanz ist reizbar, d.h. sie nimmt energetische Veränderungen in ihrer Umwelt als Reize auf, verarbeitet sie in einem "Erregungszustand" und "reagiert", wobei sie ihre Erregung wieder verliert. Nach dem 'Modell dieses sogenannten "Reflexschemas" ist letzten Endes alles psychische Geschehen vorzustellen. Auf eine gegebene Struktur wirkt ein Reiz ein; das setzt einen Erregungszustand, der nach "Reaktion" oder "Abfuhr" drängt; und unter Überwindung von allerlei sich in den Weg stellenden Hindernissen, deren Herkunft die materialistische Psychologie eben aus dem Zusammenspiel von biologischer Struktur und Aussenwelt erklären muss, kommt es schliesslich zur Abfuhr. Durch diese zwischengeschalteten problematischen Hindernisse unterscheidet sich das psychische Geschehen vom reflektorischen.

Eine solche Auffassung, die das Seelenleben hervorgehen lässt aus dem Zusammenspiel von Kräften, die zur Abfuhr drängen, und solchen, die die Abfuhr aufhalten, kann man eine dynamische nennen. Sie fasst das Seelenleben, wie es sich unserm Bewusstsein darstellt, als Resultante von Kräften auf, die aus dem Resultat erschlossen werden müssen. Diese Kräfte selbst müssen, wie gesagt, -- soll die ganze Psychologie materialistisch bleiben -- sich zusammensetzen aus den

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primitiven, im Körperlichen wurzelnden und im Verlaufe der biologischen Entwicklungsgeschichte entstandenen Bedürfnissen, den so genannten Trieben, und den Einwirkungen der Aussenwelt auf diese. Etwas Drittes, etwa ein immanentes "Vervollkommnungsprinzip" oder dgl. hat in einer materialistischen Psychologie keinen Platz. ((Eine dynamische Psychologie ist immer in erster Linie eine Triebpsychologie. Heisst das, dass sie nur Triebe anerkennt, und alle anderen dem Bewusstsein gegebenen seelischen Geschehnisse leugnet ? Nein; aber es heisst, dass sie andere Erscheinungen als aus Trieben, durch Einflussnahme der Aussenwelt entstanden vorstellt; so wie etwa die Zellenlehre durch die Existenz von zellenloser Knochensubstanz oder von zellenlosen Nerven nicht widerlegt wird, sofern es gelingt, jene als Interzellularsubstanz zu erklären und diese mit Hilfe der Neuronentheorie ebenfalls auf Zellen zurückzuführen. In dieser Richtung scheint uns eine inhaltlich vielleicht kritikbedürftige Arbeit von Freud als heuristisch höchst bedeutungsvoll; sie heisst "Die Verneinung" und versucht, die von allem Triebleben scheinbar so ferne psychische Urteilsfunktion als durch Aussenweltseinfluss veränderten Trieb zu erweisen.)) Sie lässt sich von keinem philosophischen Einwand "im Psychischen gibt es keine Quantität" u. dgl. davon abhalten, sich als Arbeitshypothese diese Kräfte vorzustellen aIs -- in Analogie mit energetischen Erscheinungen der physischen Welt -- ausgestattet mit verschiedenen Intensitäten, wirkend in verschiedenen Richtungen (abfuhrfördernd oder abfuhrhemmend). Die Untersuchung der Verschiedenheiten dieser Intensitäten und ihrer Beziehungen zueinander tritt als ökonomischer Gesichtspunkt neben den erwähnten dynamischen. Eine solche Denkweise nimmt das psychische Geschehen als das, als was es im unmittelbaren Erleben wirklich erscheint, als ein fliessendes, sich immer veränderndes, in seinem Ablauf zu erfassendes Geschehen; und die Auffassung einer "Psychischen Energie", deren Summe gleich bleibt, und deren Teilsummen von einer Kraft auf eine andere verschoben werden können, wird solange beibehalten, als diese Auffassung der naturwissenschaftlichen Aufgabe dient, verschiedenartige Phänomene einheitlich zu erklären und schliesslich Voraussagen und technische Benutzung zu ermöglichen.

Wir erklären, sagten wir, die psychischen Erscheinungen aus der Einwirkung äusserer Kräfte auf innere. Die inneren sind, sagten wir, letzten Endes die biologisch gewordenen Triebe. Welches sind die äusseren ? Die wirklichen materiellen Bedingungen, die auf den Organismus einwirken. Es gibt keine Psychologie in jener in der Luft schwebenden Welt der "Zwei Männer" des Dühring, über die Engels mit Recht sich schon so lustig gemacht hat, sondern nur in einer jeweiligen konkreten Gesellschaft und an einer bestimmten Stelle dieser jeweiligen konkreten Gesellschaft.--

Wir sind reichlich in die Theorie geraten. Vielleicht ist es deshalb besser, sich nun jener zweiten Frage zuzuwenden, welchen prakti-

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sehen Zwecken denn eine dialektisch-niaterialistische Psychologie dienen soll, um bei ihrer Beantwortung konkreter zu werden.

Gehen wir von einem groben Beispiel aus: In der bürgerlichen psychologischen Literatur nimmt die sogenannte "Psychologie der Kriminalität" eine grosse Rolle ein. Man zerbricht sich den Kopf und stellt grosse Theorien darüber an, warum wohl dieser oder jener Mensch stiehlt. Man pflegt dabei in grotesker Weise die bürgerlichen Gesellschaftsverhältnisse zu übersehen, die darin bestehen, dass die zur Befriedigung von Bedürfnissen geeigneten Güter in reichlichem Masse vorhanden sind, den meisten Menschen aber die Möglichkeit, in ihren Genuss zu gelangen, fehlt. Dass jemand sein biologisches Bedürfnis befriedigen will, ist zwar auch eine psychologische Tatsache, aber eine unproblematische. Es ist das Selbstverständliche. Unter solchen Gesellschaftsverhältnissen kann das Problem nur lauten: Warum stehlen so und so viele Menschen nicht ? Mit anderen Worten: Welche Einflüsse der Umwelt haben in ihr Triebleben ändernd eingegriffen ? Die erste Antwort wird lauten: Die herrschenden Klassen haben durch eine Institution, Strafjustitz, eine Kraft geschaffen, nämlich die Angst vor der Strafjustiz, die dem Triebleben entgegenwirkt und sich so oft als stärker erweist. Es ist aber kein Zweifel, dass es manche Menschen gibt, die auch dann nicht mehr zu stehlen vermögen, wenn sie sicher sind, dass sie nicht erwischt werden. (Bei anderen "asozialen" und "antisozialen" Handlungen mag das deutlicher sein als beim Diebstahl.) Die einflussnehmende Umwelt hat also das Triebleben bereits in einem höheren Grade verändert, als dass es nur Angst erzeugt hätte. Der Erziehungseinfluss, die "Ideologie", hat die Triebstruktur des betreffenden Menschen wirklich in einer Weise verändert, dass Energien, die den ursprünglichen Triebbestrebungen entzogen wurden, nun gegen dieselben wirken und sie an der Entfaltung hindern. Die dialektisch-materialistische Psychologie untersucht, wie solche Strukturveränderungen vor sich gehen.

Die Erkenntnis, dass die jeweils bestehende Gesellschaftsordnung die psychischen Strukturen ihrer Mitglieder durch ihre Ideologie verändert, ist nicht neu und gewiss nicht antimarxistisch. Sie würde nur antimarxistisch, wenn man nun die Ideen für etwas Jenseitiges hielte, das dem ökonomisch Bedingten entgegentritt. Die Ideologie entsteht aber aus den Produktionsverhältnissen, ihren Widersprüchen und Interessen, und zwar den Interessen der herrschenden Klasse. Über Entstehung, Bedeutung und Wirkungsweise der Ideologie ist viel sehr Beherzigenswertes bei Marx nachzulesen. Dort findet man, dass und wie die Produktionsverhältnisse die "Ideen im Menschenkopf" schaffen, und wie diese durch die Handlungen der Menschen auf die ökonomische Basis zurückwirken. Aber über die Einzelheiten des "Wie" dieser Vorgänge konnte Marx nicht schreiben, weil es keine dialektisch-materialistische Psychologie gab. Aber die Marxisten, die meinen, solche Einzelheiten wären deshalb ohne Interesse, sind im Un-

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recht; wenn sie immer wieder versichern, der herrschenden Klasse stünden Schule, Religion, Presse, Rundfunk zur Verfügung, die revolutionären Parteien aber wären schwach und machtlos; je mehr ihre Propaganda quantitativ in die Massen eindringe und je höher das Elend steige, umso eher werde es gelingen, die Wirkung der Ideologie auszugleichen, so besteht die grosse Gefahr, dass sie sich mit dieser Weisheit begnügen. Sie mögen einmal beginnen, stattdessen die Wirkungsweise von Schule, Religion, Presse und Rundfunk im einzelnen zu studieren, vielleicht dabei auch eine Rangordnung dieser "ldeologiefabriken" zu versuchen, und vielleicht gar noch wirksamere Fabriken solcher Art zu entdecken, an die sie bisher noch gar nicht gedacht haben, wie etwa die Familie und die gesellschaftliche Sexualeinterdrückung. Reich hat uns diese Faktoren ins rechte Licht gerückt. Ist der Mensch ein Produkt seiner materiellen Verhältnisse, so ist er das, und zwar ganz im Sinne von Marx, in doppelter Hinsicht. Nicht nur direkt wirken die ökonomischen Verhältnisse auf das Individuum ein, sondern auch indirekt auf dem Umwege über die Änderung seiner psychischen Struktur.

Daraus ergibt sich zunächst die wichtigste praktische Aufgabe der dialektisch-materialistischen Psychologie. Der Ideologie der herrschenden Klassen wurde nur die Entlarvung ihrer wahren objektiven Funktion entgegengesetzt. Es gilt aber zu verstehen, warum das so oft so wenig nutzt. Ideologische Beeinflussung heisst immer Trübung der Verstandesfunktion. Einem Menschen, der enthusiasmiert ist, kann man nicht mit Argumenten beikommen. -- Nun wird man dagegen einwenden, dass Enthusiasmus keine so gewöhnliche Angelegenheit sei, dass die Behandlung dieses Sonderzustandes gerade ein so wichtiges Problem bildete. Wenn sich aber herausstellt, dass in allen Mensehen unausgesetzt Mechanismen wirksam sind, die man "unbewussten Enthusiasmus" nennen könnte, d.h. Mechanismen, die darin bestehen, dass an bestimmten Stellen und in bestimmter Weise logisches Denken und rationales Handeln in ähnlicher Weise eingeschränkt sind, wie es manifest beim Enthusiasmus der Fall ist, gewinnt diese Frage an praktischer Bedeutung. Erkenntnisse in diesem Bereich müssen die Propagandaarbeit in ausserordentlichem Masse verändern. Sie werden aber auch oft genug bei politischen Entscheidungen wichtig werden, die fehl gehen können, wenn sie "ökonomistisch" gefällt werden, d.h. nur mit Berücksichtigung der materiellen ökonomischen Grundlagen bei Ausserachtlassung ihres dialektischen Widerspiels im Menschenkopf. Das liesse sich an zahlreichen Beispielen zeigen. Das wichtigste dieser Beispiele ist das nur psychologisch zu erklärende Zurückbleiben der Revolutionierung des Proletariats gegenüber der "ökonomischen Basis". -- Ein anderes Beispiel: Eine marxistische Kritik der Erziehungsinstitutionen als gesellschaftlicher Institutionen zur Verdummung der Menschen durch ideologische Bildung ist zwar schon gelegentlich versucht worden, bekäme

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aber eine ganz andere Wertigkeit, wenn man die Tiefe der lebenslangen Bindung nicht nur an die Inhalte der kindlichen Erlebnisse, sondern auch an die Form, in der diese Erlebnisse erlebt wurden, z.B. die Bedeutung der Familieninstitution, (des "Ödipuskomplexes" und des "Über-Ich") aus psychoanalytischer Erfahrung besser kennte.

Eine Kritik bestehender Institutionen, deren gesellschaftliche Bedeutung erst mit Hilfe der Psychologie voll erkannt werden kann, bringt natürlich auch eine Fülle von positiven Anwendungsmöglichkeiten der Erkenntnisse mit sich. Was die heutige Psychoanalyse mit ihren Erkenntnissen kann, das ist Neurosentherapie an einzelnen Kranken, die monate- und jahrelang täglich eine Stunde lang behandelt werden müssen. Sonst kann sie nichts. Eine solche Therapie ist angesichts des ungeheuren neurotischen Elends der Massen, das mit Unrecht neben dem ebenso ungeheuren materiellen Elend gar nicht beachtet wird, lächerlich. (Man verachte deshalb aber auch von unserem Standpunkt die langwierigen Analysen an Einzelpatienten nicht; diese unzulängliche therapeutische Arbeit ist doch gleichzeitig die einzige Forschungsmethode der werdenden dialektisch-materialistischen Psychologie.) Die weit wichtigere Frage der Neurosenprophylaxe ist noch kaum angegangen worden. Die Gründe hierfür sind erstens die gleichen, die dafür verantwortlich sind, dass auch in anderen Gebieten der bürgerlichen Medizin so viel mehr Therapie als Prophylaxe getrieben wird. Zweitens wird der einzelne Arzt für therapeutische Tätigkeit vom Patienten bezahlt; Überlegungen über Prophylaxe aber würden ihn zu der Erkenntnis der gesellschaftlichen Verwurzelung der Neurosen und damit zu der Erkenntnis des ganzen problematischen Charakters unserer Gesellschaft führen, Erkenntnisse, denen der bürgerliche Arzt gern ausweicht. Benutzt aber jemand, der mit marxistischem Wissen ausgestattet ist, unter marxistischen Kautelen die Erkenntnisse der neuen Psychologie, so beginnt damit nicht nur die Möglichkeit, an die Probleme der Neurosenprophylaxe erfolgreich heranzugehen, sondern auch die, die in der bürgerlichen Pädagogik schon seit Jahrhunderten geforderte, aber in ihr nicht erfüllbare Aufgabe anzugehen: die pädagogischen Institutionen und Handlungen wissenschaftlich zu fundieren.

Es wäre nun am interessantesten, diese Behauptungen durch Beispiele zu stützen. Wir haben aber an dieser Stelle zunächst eine andere Aufgabe zu erfüllen.

Wir können der Frage nicht mehr ausweichen, dass die Psychoanalyse, wiewohl auch sie idealistische Elemente enthält, von denen der Marxist abrücken muss, dennoch im Kerne die einzige empirische Wissenschaft vom Seelenleben ist, die all die Forderungen, die wir aufgezählt haben, erfüllt, und die deshalb als Keim einer dialektisch-materialistischen Psychologie zu betrachten ist.

Es wäre nicht schwer, diese Behauptung vor sachkundigen Psycho-

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analytikern, die gleichzeitig das Prinzip des dialektischen Materialismus kennen, zu beweisen.

Ein solcher Beweis ist auch schon von mehreren Autoren ausführlich geliefert worden, am besten wohl von Reich in seiner Arbeit "Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse". Es ist aber sehr schwer, in Kürze einen solchen Beweis vor Genossen zu bringen, von denen man annehmen muss, dass sie die Psychoanalyse nur wenig oder gar nicht kennen, oder gar durch Vorurteile gegen sie eingenommen sind. Ich meine, solche Genossen gilt es zunächst einmal mehr von der legitimen Notwendigkeit und den Kriterien einer naturwissenschaftlichen Psychologie überhaupt zu überzeugen. Es müsste dann eine Art Einführungskursus in die Psychoanalyse gehalten werden, der ihnen erst ermöglichte, sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, wie weit jene Notwendigkeit und diese Kriterien von der jungen Wissenschaft bereits erfüllt werden. Hier muss ich mich damit begnügen, die Eignung der Psychoanalyse für die für uns gewünschten Zwecke an Beispielen zu demonstrieren und schliesslich einige Beispiele dafür zu nennen, von welchen Erscheinungen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung, die wir für ein Verlassen der eigentlichen psychoanalytischen Grundprinzipien halten, wir scharf abrücken müssen.

Vorher sei nur noch bemerkt, dass sowohl die vorhin ausgeführten Gedankengänge über die dynamische und ökonomische Denkweise einer materialistischen Psychologie als auch die Ausführungen über die Ideologiewirkung natürlich bereits aus psychoanalytischen Denkweisen heraus stammten und die Denkart von Freud wiedergaben.

1) Marx hat seine Methode, den dialektischen 'Materialismus, auf sein eigenes wissenschaftliches Gebiet, die Gesellschaftslehre, angewendet und damit die "dialektische politische Ökonomie", den "Marxismus" im engeren Sinne, geschaffen. Innerhalb des Bereiches anderer Wissenschaften kann "Marxist sein" nichts anderes bedeuten, als die gleichen Prinzipien, die Marx in der politischen Ökonomie verwendet hat, in der eigenen Wissenschaft anzuwenden. Freud, der dem Marxismus fern steht und sogar, ihn missverstehend, gegen ihn polemisiert hat, lag es fern, dies etwa bewusst zu tun. Umso mehr spricht es für die Richtigkeit seiner Erkenntnisse, dass diese dennoch einen solchen Charakter tragen. Eine erste formale Gemeinsamkeit zwischen Psychoanalyse und Marxismus fällt zunächst in die Augen, wird aber von Autoren verschiedener Ansicht verschieden bewertet. Beide sind entlarvende Wissenschaften, d.h. sie sind misstrauisch gegenüber dem, was offen in Erscheinung tritt, und suchen es als Resultante verborgener Kräfte zu erkennen. Beide sind überzeugt, dass das, was als Motiv des Geschehens angegeben wird, Vorwände sind, die tatsächliche Zusammenhänge und die wahren Ursachen verbergen sollen. -- Allerdings das, was als wahre verborgene Ursache erkannt wird, ist etwas Grundverschiedenes. Hier die Produktionsverhältnisse und die durch sie geschaffenen Klassengegensätze

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und Klassenkämpfe; dort das "Unbewusste", d.h. die primitiven biologischen Bedürfnisse und ihre durch die Einfussnahme der Aussenwelt entstandenen Gegenkräfte. -- Wenn nun Psychoanalytiler daran gehen, in fälschlicher Gleichsetzung von Einzelleben und gesellschaftlichem Geschehen die psychologischen Kenntnisse auf das gesellschaftliche Geschehen anzuwenden und etwa nach einem "unbewussten Triebleben der Gesellschaft" zu suchen, und dabei die materiellen Ursachen des gesellschaftlichen Geschehens übersehen, so wehren sich die Marxisten mit Recht gegen solchen Unsinn. Sie haben aber unrecht, wenn sie solches Denken für die eigentliche Psychoanalyse halten und damit meinen, der Umstand, dass die Psychoanalyse ebenso wie der Marxismus zu "entlarven" sucht, wäre eine grössere Gefahr als die Verwendung einer weniger misstrauischen Psychologie, da eben das, was aufgedeckt wird, so verschieden sei, hier die wirklichen materiellen Produktionsbedingungen, dort das mystische "Unbewusste".

Sie tun unrecht, denn sie wissen nicht, dass das Unbewusste längst nicht mehr mystisch ist, sondern mindestens ebenso real wie der Lichtäther. Die gekennzeichneten bürgerlichen Psychoanalytiker haben nur den unentschuldbaren Fehler begangen, die Verschiedenheit der Gegenstände zu übersehen und mit psychologischen Methoden die der Psychologie unzugänglichen gesellschaftlichen Faktoren untersuchen zu wollen. (Über die schwierigen aber wichtigen Fragen des gegenständlichen und methodischen Verhältnisses von Psychologie und Soziologie, über das einiges Wenige später noch gesagt wird, bedürfte es eingehender Auseinandersetzungen.) Verbleiben wir aber zunächst innerhalb des Gebietes der Psychologie, so ist zu fragen, worin denn eigentlich dieses "Unbewusste" besteht, das hinter den bewussten Erscheinungen des Seelenlebens als verursachend in analoger Weise aufgedeckt werden soll, wie die Produktionsverhältnisse hinter den angeblichen Ursachen der gesellschaftlichen Veränderungen. Es besteht wieder erstens aus den biologischen Bedürfnissen des Menschen und zweitens aus den Modifikationen dieser Bedürfnisse, die durch Einwirkung der Aussenwelt entstanden sind. Die biologischen Bedürfnisse sind materielle Gegebenheit, die kein Marxist leugnen kann; die seelische Grundstruktur des Menschen ist genau so wie seine anatomische und physiologische Eigenart als "Naturkonstante" zu betrachten, die den Produktionsverhältnissen zugrunde liegt, aber auch durch die praktische Produktion ihrerseits verändert wird, etwa so wie Klima und Bodenschätze eines Landes, in dem produziert wird. Und die prinzipielle Abhängigkeit der Umweltsfaktoren vom "sozialen Ort", den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen das Individuum steht, ist doch selbstverständlich. Deshalb erscheint uns die Forderung der Psychoanalytiker: "Wir müssen hinter den bewussten seelischen Erscheinungen das Unbewusste suchen", tatsächlich nur die Anwendung des gleichen Prin-

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zips auf psychologischem Gebiet, das die Marxisten auf soziologischem sagen lässt: "Wir müssen hinter den Vorwänden, die für geschichtliche Ereignisse verantwortlich gemacht werden, die verborgenen wirklichen materiellen Produktionsverhältnisse als Ursache auffinden."

2) Einen Menschen psychoanalytisch erforschen heisst, ihn historisch-genetisch erforschen, also feststellen, wie das Zusammenspiel von Umweltseinflüssen und biologischen Gegebenheiten allmählich die psychische Struktur erzeugt hat, die nun vorliegt. Sie stellt dabei das ungeheure Übergewicht der Erlebnisse der ersten Kinderjahre für die Gestaltung dieser Struktur fest. In dieser Hinsicht kann man die Psychoanalye eine historische Wissenschaft nennen. Sie begnügt sich aber nicht mit der Feststellung des historischen Werdeganges dieser einen Person, sie untersucht in gleicher Weise möglichst viele Individuen, vergleicht sie miteinander und schliesst daraus auf die allgemeinen Gesetzmässigkeiten des Zusammenpralls von biologischen Gegebenheiten und Aussenweltseinflüssen. Ist die Psychoanalyse historisch zu nennen, so ist es eine materialistische Geschichtsauffassung, mit der die Historik des Einzelnen betrieben wird. Sie strebt darüber hinaus zur Naturwissenschaft von der materialistischen Historik des Menschen überhaupt. Sind die dabei gewonnenen Erkenntnisse eindeutig dialektischer Natur, so spricht das für die Erkenntnisse. Ich möchte an einem einzigen Beispiel versuchen zu zeigen, dass es so ist.

In vielen Psychologien gibt es eine mechanische Zweiteilung des psychischen Bereiches, es zerfällt in einen "höheren" und "niederen", "guten" und "bösen" Anteil, sagen wir kurz: in "Trieb" und "Moral". Eine Verabsolutierung eines solchen empirischen Gegensatzesführt direkt in den Idealismus resp. in die Theologie. Der Trieb ist dann das Irdische, die Moral das Göttliche im Menschen. Die Psychoanalyse nun weist zunächst alles "Moralische" im Menschen als historisch geworden nach, also als entstanden durch die Einflussnahme der älteren Generation auf die heranwachsende jüngere, wobei sie sich bei solcher Einflussnahme erstens von ihren eigenen Interessen und zweitens von der jeweiligen gesellschaftlichen Ideologie und damit von der materiellen Basis, den jeweiligen Produktionsverhältnissen, leiten lässt. Hierbei bewahrheitet sich die Behauptung, dass die Psychoanalyse materialistisch ist. Durch die Art, wie sie die "Moral", die göttlich sein soll, als irdisch entlarvt, gibt sie ein Beispiel dafür, welche Dienste sie der marxistischen Kritik bürgerlicher Ideologien und Institutionen leisten kann. Sie weist aber darüber hinaus nach, dass die Kräfte, die die Moral speisen, zu denen der biologischen Triebe nicht in einem absoluten, sondern in einem dialektischen Gegensatz stehen. Die Moral ist aus den Trieben selbst hervorgegangen, indem es der Umwelt gelang, einen Teil der Triebenergie für ihre Zwecke einzufangen und gegen die ihr unerwünschten Triebe zu lenken. Es beginnt dies schon beim ganz kleinen Kind, das infolge seiner biologischen Hilflosigkeit auf die Hilfeleistung der erwachsenen Um-

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gebung bei allen seinen Bedürfnissen angewiesen ist. Bei dieser Bedürfnisbefriedigung durch die Umwelt erwirbt der Säugling eine zärtliche Bindung an diese Umgebung -- und er kann später ohne eine gewisse zärtliche Zuwendung ebenso wenig leben wie früher ohne Milch. Es ist ein ausgesprochenes, wenn auch selbst noch zu analysierendes Triebbedürfnis des kleinen Kindes, geliebt zu werden. Dieses Bedürfnis ist umso stärker, als beim kleinen Kinde von solchen Liebeszuwendungen auch noch das ganze Selbstgefühl abhängt. Diese, wie wir sagen, "narzisstische" Abhängigkeit des kleinen Kindes von Zärtlichkeitszuwendungen seiner Umgebung, gewiss ein triebhaftes Bedürfnis, gibt dieser Umgebung ein mächtiges Mittel in die Hand. Sie setzt diesen Trieb gegen andere Triebe ein. "Wenn du nicht auf diesen oder jenen Triebwunsch verzichtest, werde ich dich nicht mehr lieben" ist neben der Drohung: "Wenn du nicht verzichtest, werde ich dir direkten Schmerz zufügen", das einzige Erziehungsmittel. Das Kind wird so durch seine Umgebung in einen Konflikt hineingeschickt und muss sich entscheiden, ob ihm sein von den Erwachsenen missbilligter Trieb oder sein Trieb nach dem Geliebtwerden wichtiger ist. Und schon wird ein Teil der Triebenergie des Menschen zur Triebunterdrückung benutzt. Dies ist neben der direkten Erzeugung von Angst das einfachste Modell für Einflussnahmen der Umwelt auf Triebstrukturen überhaupt. -- Auf diese Weise entsteht allerdings noch keine eigentliche "innere Moral", sondern nur die alle Handlungen einschränkende Angst, was wohl die Aussenwelt dazu sagen werde. Später aber geht es noch etwas komplizierter zu. (Mir kommt es hier nur darauf an, die Dialektik dieser Beschreibungen klar zu machen; dass die beschriebenen Vorgänge Fakten sind, müsste dem, der es bezweifelte, erst viel ausführlicher gezeigt werden.) Das Kind liebt gewisse erwachsene Personen in der Aussenwelt, und zwar mit voller, d.h. sexueller Liebe. Diese Erwachsenen verbieten ihm aber jede Befriedigung dieses sexuellen Verlangens. Das Kind ist also unbefriedigt und muss sich einen Befriedigungsersatz suchen. In ihren Wünschen enttäuschte Menschen antworten immer mit einer Flucht in die Vergangenheit, mit einem Hervorholen früher bereits überwundener Mechanismen, die seinerzeit mehr Befriedigung gewährten. Auch das enttäuschte Kind greift einen uralten Mechanismus wieder auf. Die allerälteste Form der Liebe, wenn man so etwas überhaupt schon Liebe nennen kann, die vor der eigentlichen sexuellen da war, hatte zum Ziel, das Objekt ganz sich einzuverleiben und ihm ähnlich zu werden, es sozusagen aufzufressen, um es immer bei sich zu haben. So auch nimmt das Kind, dem die Eltern seine sexuellen Wünsche verbieten, diese Eltern sozusagen in sich auf, und ein Teil seines Ichs, der durch diese Aufnahme verändert wurde, redet nun in seinem eigenen Innern so, wie die Eltern selbst früher geredet haben. So kommt es dazu, dass die Energien, mit denen der ursprüngliche sexuelle Trieb ausgestattet war, dann dazu dienen, die Verbote, die die Eltern

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ausgesprochen hatten, zu verinnerlichen und ihre Kraft statt der Triebbefriedigung der Triebunterdrückung zu leihen.

3.) Es wird der Psychoanalyse vorgeworfen, dass sie "alles auf Sexualität zurückführe". Das ist nicht wahr. Aber es ist wahr, dass sie sehr viel auf Sexualität zurückführt, mehr als es je vor ihr geschah. Sie hat eine Eigenschaft, die der Marxist jedenfalls anerkennen muss, und die sonst in der Psychologie recht selten ist: einen unerschütterlichen Blick auf die Wirklichkeit. Dieser hat ihr etwas gezeigt, was man vorher nicht wusste, und was dennoch so offen vor aller Augen liegt, dass es heute, nachdem Freud uns den Star gestochen hat, gar nicht mehr begreiflich ist, wie es möglich war, so etwas nicht zu sehen: die infantile Sexualität. Die geradezu bizarre Tatsache, dass man dieses so überaus bedeutsame Erscheinungsgebiet überhaupt nicht bemerkte, kann selbst gewiss nur marxistisch untersucht werden, indem man den gesellschaftlichen Sinn der Illusion, das Kind wäre asexuell, aufdeckt. Es gibt kein Gebiet, auf dem die Forderung, eine Wissenschaft müsse wertfrei und amoralisch sein, weniger erfüllt würde, als die bürgerliche Sexualwissenschaft. Überall, wo die Forschung irgendein sexuelles Problem anging, spukte die "Sittlichkeit" hinein. Die Kenntnisse über den Sexualtrieb sind für die gesamte Psychologie des Menschen deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich die Energie des sexuellen Triebes im Gegensatz zu der anderer Triebe auf andere Gebiete "verschieben" lässt, so dass wir es bei sehr vielen Phänomenen, bei denen man es nicht erwartet hätte, im Grunde mit einem Sexualphänomen zu tun haben. Es ist merkwürdig, wie weit bürgerliche Vorurteile über den Charakter des Sexualtriebes (etwa über seine Beziehung zur Fortpflanzungsfunktion oder über die Notwendigkeit einer bestimmten Art seiner Bändigung durch Sittlichkeit) auch in marxistischen Kreisen bestehen. Die sexualwissenschaftlichen Erkenntnisse der Psychoanalyse werden auch hier ermöglichen, den gesellschaftlichen Sinn dieser ganzen die Wirklichkeit verhüllenden Ideologie aufzuweisen. Mit der Auffassung, dass das Kind ein kleines Triebwesen sei, das nur auf verschiedenen (polymorph-perversen) Wegen seine Lust sucht, und dem erst allmählich durch mehr oder minder tiefgreifende Eingriffe der Aussenwelt beigebracht wird, auf sie "Rücksicht" zu nehmen, ist unseres Erachtens der Beginn einer die wirklichen Tatsachen erfassenden Psychologie überhaupt. Und die Rolle und Funktion der gesellschaftlichen Sexualunterdrückung als Voraussetzung für die Umstrukturierung der Menschen im Sinne ihrer Beeinflussbarkeit durch Ideologien ist ebenfalls über jeden Zweifel erhaben. (Der einzig mögliche Zweifel wäre, ob nicht eine gewisse gesellschaftliche Sexualunterdrückung in der Erziehung Voraussetzung jeder Gesellschaft, unabhängig von der gesellschaftlichen Form wäre, indem der in seiner Sexualität uneingeschränkte Mensch überhaupt kulturunfähig wäre. Diesen Einwand ausführlich zu besprechen, würde zu weit abführen, hier genüge: Die Tatsache, dass

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es kultivierte menschliche Gesellschaften ohne Unterdrückung der kindlichen Sexualität gibt und gegeben hat, spricht nicht für die allgemeine Gültigkeit dieses Einwandes. Aber selbst wenn er recht hätte, käme es doch noch sehr auf Ausmass, Inhalt und Form der sexuellen Unterdrückung an. Der Marxist hört nicht gern von "Kultur überhaupt" reden. Die Sexualunterdrückung, die heute besteht, und die durch sie erzeugten heutigen Neurosen werden durch heutige "Kultur"umstände erzeugt.) --

Wenn der Marxist von "biologischen Bedürfnissen" spricht, so denkt er gewöhnlich nur an den Hunger. Zwar zweifelt er nicht daran, dass in Erscheinungen wie Ehe, Prostitution etc. wirtschaftliche Momente in ein materiell-biologisches Substrat komplizierend eingegriffen haben. Da er aber mangels psychologischer Bildung über die Verschiebbarkeit der sexuellen Bedürfnisse nicht Bescheid weiss, neigt er dennoch dazu, nur den Hunger als "materielle Basis" anzusehen und andere Triebbedürfnisse dem "Überbau" zuzurechnen. Ein Fehler, der sich schwer rächen kann. Die richtige Einschätzung der Bedeutung der sexuellen Bedürfnisse für alles Denken und Handeln der Menschen ist einer jener Punkte, den die marxistische Praxis von der Psychoanalyse wird lernen müssen.

Nach diesen durchaus ungenügenden positiven Ausführungen über die Psychoanalyse, die nur Lust dazu machen sollen, sich mit diesen Themen näher zu befassen, wollen wir nun aber auch keinen Zweifel daran lassen, dass es innerhalb der psychoanalytischen Literatur Erscheinungen gibt, von denen man unbedingt abrücken muss. Man hüte sich nur davor, diese für das Wesentliche der Psychoanalyse zu halten. Deren Wesen können wir nur in dem Versuch erblicken, mit dynamisch-ökonomischem Denken naturwissenschaftliche Psychologie zu treiben. Dabei wollen wir gar nicht davon reden, dass von Psychoanalytikern (auch von Freud) verfasste philosophische Werke, die ausdrücklich als solche bezeichnet werden, nicht die Psychoanalyse sind. Eine Kritik solcher Bücher -- und sie ist gewiss notwendig -- trifft nicht die Psychoanalyse als Wissenschaft.

Es wäre ein Wunder, wenn psychologische Forschung, d.h. Forschung auf einem Gebiete, das solange Domäne des Idealismus gewesen ist, nicht immer wieder Rückfälle in den Idealismus erzeugte. Es ist marxistisch interessant, dass solche Rückfälle innerhalb der Psychoanalyse in ruhigeren Zeiten weit seltener waren, als jetzt, wo viele Psychoanalytiker sich in ihrer materiellen Existenz bedroht sehen. Die Gefahr solcher Rückfälle ist natürlich auf dem Gebiet der Theorie am grössten und dort wieder auf dem Gebiet der Trieblehre, wo leicht die Brücke von der Psychologie zur Biologie, die uns das Wesentlichste an der Trieblehre dünkt, durch falsche Auffassung des Triebbegriffs abgerissen werden könnte. Fehler in der Theoriebildung wieder führen leicht zur Spekulation mit solchen von der Grundlage der Praxis abgelösten Begriffen und damit zur schädlichen Entfernung

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vom Mutterboden der Empirie. Die Streitfragen, um die es sich hier handelt, sind für den mit der Sache nicht Vertrauten schwer darzustellen. Deutlicher werden die Fehler bei Versuchen der Anwendung der Psychoanalyse auf Probleme der Massenpsychologie oder gar auf Fragen der Soziologie. Hier sind manche Arbeiten erschienen, die von krassester Unkenntnis der gesellschaftlichen Vorgänge zeugen. In der Verurteilung solcher Arbeiten stimmen wir mit antianalytischen Marxisten durchaus überein. Nur darf man nicht die falsche Anwendung einer Wissenschaft für die Wissenschaft selbst halten. Wir müssen allerdings auch zugeben, dass die Kritik solcher Arbeiten bisher nicht immer eindeutig genug erfolgt ist. Immerhin sind verschiedene solcher marxistisch erfreulich eindeutiger Arbeiten erschienen, darunter einige, die die richtige Anwendung psychoanalytischer Denkweise und Kenntnisse auf gesellschaftliche Fragen versuchen. Ich nenne da neben den Büchern von Reich vor allem die programmatische Arbeit von Fromm "Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie". -- Schon das Wort "Massenpsychologie" erregt manchmal Misstrauen und Unwillen, aber Schuld daran ist nur die falsche Massenpsychologie. Wenn wir von massenpsychologischen Phänomenen reden, so denken wir dabei beileibe nicht an jene "Massenseelen", die in bürgerlichen Psychologien herumspuken und den "Einzelseelen" entgegengesetzt werden, wie etwa, als die Psychoanalyse ausser einem bewussten Seelenleben auch ein unbewusstes entdeckte, gleich ein C. G. Jung sich fand, der noch ein "kollektives Unbewusstes" dazu erdachte. Nein, seelisches Geschehen spielt sich für den Naturwissenschaftler immer nur im einzelnen Individuum ab. Eine Massenpsychologie kann auch nichts anderes als Vorgänge im Einzelnen untersuchen. Sie unterscheidet sich von der Einzelpsychologie nur dadurch, dass sie die Vorgänge in den Individuen nur unter bestimmten Bedingungen untersucht. Das ist uns mit Freuds Arbeit "Massenpsychologie und Ichanalyse" endlich klar geworden. Die Massenpsychologie untersucht die Vorgänge im Einzelnen, "insofern er einer Masse angehört". Aber inwiefern gehört jeder Mensch Massen, und zwar zahlreichen und verschiedenen Massen an ? Insofern, als er mit verschiedenen Gruppen anderer Individuen jeweils verschiedene Gruppen von psychischen Eigenschaften gemeinsam hat. Solche psychischen Eigenschaften, in denen eben ganze Gruppen von Menschen übereinstimmen, sind Gegenstand der Massenpsychologie. -- Diese begriffliche Klärung ist von höchster heuristischer Bedeutung. Ihre genaue Überlegung (Woher stammt die Gemeinsamkeit psychischer Eigenschaften ? Aus in gleicher Weise einwirkenden äusseren Reizen. Welche Reize wirken in gleicher Weise auf ganze Gruppen ein ? Letzten Endes die ökonomischen Bedingungen.) ist methodologisch wichtig und erweist die Falschheit des grössten Teils der bisherigen (idealistischen) psychoanalytischen Soziologie.

Deren Hauptfehler ist folgender: Wir sagten, die Psychoanalyse

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versuche prinzipiell die seelischen Erscbeinungen zu klären aus dem Zusammenspiel von aktuellen Einflüssen und Triebstrukturen. Diese Triebstrukturen wieder setzen sich zusammen aus biologischen Gegebenheiten und den jeweiligen früheren Einflüssen. Eine psychologische Beschreibung muss daher stets aktuelles Erleben und Struktur beschreiben. Es gibt nun eine Kategorie von Erscheinungen, bei denen man das aktuelle Erleben relativ vernachlässigen und alles Gewicht nur auf die Struktur legen darf. Das sind die neurotischen Erscheinungen. Ein Neurotiker ist eben dadurch charakterisiert, dass er auf aktuelle Erlebnisse nicht adäquat reagiert, sondern auf alles, was er erlebt, was immer es sei, nur mit bestimmten schematischen Reaktionen antwortet, die in seiner Kindheit entstanden sind. Es kommt also auf die Erfassung dieser Kindheit an, und es ist relativ nebensächlich, was er aktuell erlebt. (Allerdings nicht absolut nebensächlich; manche Analytiker machen durch völlige Vernachlässigung des Aktuellen grobe Fehler). - Wenn Analytiker, die in ihrer Hauptarbeit Neurosen behandeln, nichtneurotische Phänomene untersuchen, lassen sie sich leicht dazu verleiten, auch auf diesen Gebiete das Aktuelle neben dem Strukturellen geringzuschätzen. Es gibt aber eine Kategorie von Phänomenen, bei denen es geradezu umgekehrt ist wie bei den Neurosen, bei denen das Strukturelle relativ nebensächlich und einzig das Aktuelle relevant ist. Das gilt für alle massenpsychologischen, insbesondere für alle historisch bedeutsamen massenpsychologischen Erscheinungen. Denn soweit historische Ereignisse psychologischer Erfassung zugänglich sind, ist bei ihnen das Strukturelle zwar -- wie gesagt -- als Naturkonstante in Betracht zu ziehen, aber eben nur als Konstante; relativ ist die Triebstruktur des Menschen im Laufe der historischen Zeiten die gleiche geblieben; sie kann also nicht wesentlich sein für das Verständnis der Veränderungen innerhalb dieser Zeiten. Von Belang dagegen ist nur das Aktuelle, d.h. die äusseren Reize, die, verschieden durch die materiellen Verschiedenheiten verschiedener Gesellschaften, in verschiedener Weise auf die relativ konstanten Strukturen einwirken. Und selbst von diesen aktuellen Reizen wieder sind nur die von Belang, die massenpsychologisch bedeutsam werden, d.h. also die, die in gleicher oder ähnlicher Weise ganze Gruppen von Individuen treffen, also die wirklichen materiellen Verhältnisse. -- Für denjenigen, der die materialistische Geschichtsauffassung erfasst hat, ist das klar, aber neurosengewohnte Psychoanalytiker haben es übersehen. Dieses Übersehen führte zu Versuchen, in idealistischer Weise aus den Strukturen, d.h. den triebbedingten "Komplexen" Einzelner, Geschichte zu erklären. Dieses ist der Hauptfehler aller solcher abzulehnender Arbeiten. (Aber es wäre wieder ein Fehler der Kritik, nun ins entgegengesetzte Extrem zu verfallen und Geschichte lediglich ökonomistisch zu machen, d.h. nicht zu sehen, dass die Einwirkungen der materiellen Verhältnisse auf die psychischen Strukturen der Menschen diese in bestimmter Weise denken und handeln und dadurch

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als Subjekte der Geschichte wirksam werden lassen.) Ich weiss, dass dies durch einen Versuch richtiger psychoanalytischer Geschichtsforschung besser zu demonstrieren wäre als nur abstrakt, aber ich kann an dieser Stelle nicht solche Beispiele geben, sondern nur auf einige solche Versuche hinweisen, so auf die schöne Arbeit von Fromm über "Die Entwicklung des Christusdogmas" und auf manche Stellen in Reichs "Massenpsychologie des Faschismus".

Ein extremes Beispiel für die Folgen solcher Fehler sei noch angeführt: Der psychoanalytische Ethnologe Róheim hat eine sehr kostspielige Expedition zu verschiedenen Primitiven unternommen. Er wollte zum ersten Mal Psychoanalyse im ethnologischen FieId-Work anwenden. Aber wie macht man das ? Die Freudsche Psychoanalyse ermöglicht, aus den freien Assoziationen eines Menschen, dessen reale Lebensverhältnisse und bewusste Gedanken wir genau kennen (sonst könnten wir uns ja nicht in ihn einfühlen und nicht wissen, wie seine Assoziationen zu verstehen sind) auch seine unbewussten Seelenvorgänge zu erraten. Wollte man also Menschen in einer ganz anderen Gesellschaftsordnung und unter fremden Kulturverhältnissen analysieren, so müsste man erst das "Aktuelle", d.h. die Gesellschafts- und Kulturverhältnisse, die bewussten Denkweisen der Leute, lange und genau studieren. Wenn man sich damit so lange abgegeben hat, dass man ein wirklicher Kenner ihrer Kultur geworden ist, könnte man in Psychoanalysen das Unbewusste, "Strukturelle", noch dazu erfahren. -- Róheim aber strebte das Gegenteil an. Er wollte nicht die Kenntnis der Kultur zur Psychoanalyse benutzen, sondern durch Psychoanalyse einzelner Individuen die Kultur, der sie entstammen, erforschen. Natürlich las er nur unsere Komplexe in die Primitiven hinein.

Auch bei der Abweisung solcher Methodik könnte die Kritik übers Ziel hinausschiessen, und davor muss gewarnt werden. Man könnte etwa sagen: Die Psychoanalyse ist an reichen Patienten entdeckt worden. Die Proletarier aber leben in einer Welt, die von dieser ebenso verschieden ist wie die der Primitiven von der unsrigen. Eine Verallgemeinerung der psychoanalytischen Befunde könnte auch ein Hineinsehen von Sachverhalten, die für das Grossbürgertum Geltung haben, in die proletarische Welt bedeuten. Vielleicht sind Neurosen und Komplexe doch nur Luxusangelegenheiten fauler Reicher, die keine ernsten Sorgen haben. -- Es ist eigentlich ganz unbegreiflich, wie Ärzte mit proletarischer Praxis, die alltäglich dem ungeheuren neurotischen Elend der Massen gegenüberstehen, das an Menge dem materiellen Elend nicht nachsteht, so etwas glauben können. Das ist ein ebenso merkwürdiges und nur gesellschaftlich zu erklärendes Nichtsehenwollen wie das Übersehen der infantilen Sexualität. Es ist auch ein Irrtum zu glauben, Proletarier wären nicht psychoanalysiert worden. Wir haben in vielen Städten psychoanalytische Polikliniken, die unentgeltlich behandeln, und viele proletarische Krankengeschichten sind bereits von Psychoanalytikern publiziert worden. Richtig ist zwar,

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dass ein ganz in bürgerlichen Vorurteilen steckender Analytiker, der von proletarischen Lebensverhältnissen und -anschauungen keine Ahnung hat, auch einen Proletarier ebenso wenig verstehen kann, wie Róheim die Primitiven. Es ist aber auch richtig, dass bereits viele, nicht derart beschränkte Ärzte Proletarier analysiert und festgestellt haben, dass die von der Psychoanalyse ermittelten naturwissenschaftliehen Gesetze der menschlichen Seele Allgemeingültigkeit haben und für alle Gesellschaftklassen gelten; dass auch die Neurosen unserer Gesellschaft in verschiedenen Klassen einander erstaunlich ähnlich sind, dass manche Differenzen, die es dennoch gibt, sich tatsächlich auf die verschiedenen Lebensverhältnisse des bürgerlichen und des proletarischen Kindes zurückführen lassen; und dass, dank des Satzes "die Ideologie einer Gesellschaft ist die Ideologie ihrer herrschenden Klasse" die "moralischen" Anschauungen im Proletariat denen des Bürgertums überall erschreckend ähnlich sind, jedenfalls ähnlich genug, um einem Menschen von gewöhnlicher Einfühlungsbreite Einfühlung in Angehörige verschiedener Gesellschaftsklassen zu ermöglichen. Róheim fasste aber nicht nur den Primitiven als dem Zivilisierten ähnlicher auf, als er war, sondern er wollte durch seine Psychoanalysen die "primitive Kultur" ergründen. Das geht natürlich ebenso wenig, wie etwa durch Psychoanalyse von Proletariern das Wesen des Proletariats zu ergründen.

Von Versuchen, die Erklärung und Bekämpfung des Krieges durch psychoanalytisches Studium des Sadismus zu betreiben, sind wir dialektisch-materialistische Psychoanalytiker bereits mehrmals öffentlich genug abgerückt, aber die Verurteilung solchen Unsinns darf nicht zur Verurteilung der Psychoanalyse führen.

Deshalb möchte ich nun damit aufhören, Fehler einzelner Psychoanalytiker weiter zu erörtern und zurückzuweisen. Wichtiger ist das Positive der Psychoanalyse: Was sie uns gibt und was nur sie uns geben kann. Bürgerliche Vorurteile gibt es überall in der bürgerlichen Wissenschaft, auch in der Physik; und deshalb ist die Physik doch als Grundlage der sozialistischen Technik unentbehrlich, und der Marxist, der die Naturwissenschaften als "bürgerlich" abtun wollte, wäre ein gefährlicher Dummkopf. Der Marxist kann gar nichts Besseres tun, als die Naturwissenschaft seiner Zeit so gründlich wie möglich zu studieren. Und die Psychoanalyse enthält den Keim zu einer Naturwissenschaft, die für ihn von besonderer Wichtigkeit ist, zur Naturwissenschaft von der menschlichen Seele. Wenn ich diese Behauptung glaubhaft gemacht und dazu angeregt habe, sich mit dieser Wissenschaft etwas näher zu beschäftigen, so ist die Aufgabe dieser Arbeit erfüllt.

Man hört auch oft den Einwand: In einer Zeit wie der gegenwärtigen könne man sich nicht den Luxus gönnen, die Gefühle von Einzelmenschen jahrelang zu studieren. Nichts ist falscher als das. Die menschlichen Bedürfnisse, die sich in den verachteten Gefühlen spie-

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geln, sind die Basis alles dessen, was in der menschlichen Gesellschaft geschieht, und die Produktion, die unternommen wird, um diese Bedürfnisse zu stillen, aber dank ihrer eigenen Gesetzlichkeit dazu nun nicht mehr in der Lage ist, wirkt in hunderterlei Formen direkt und indirekt als Reiz auf das menschliche Seelenleben ein, das dadurch in bestimmter und gesetzmässiger Weise verändert wird. Die materielle Basis setzt sich in den Überbau im Menschenkopf um, und dieser wirkt auf die Basis zurück. Wie das geschieht, verdient die Aufmerksamkeit jedes, der an gesellschaftlichen Vorgängen interessiert ist. Die Psychoanalyse gibt uns die Mittel hierzu. Sie setzt nicht eine "psychologische" Auffassung der historisch-materialistischen entgegen, sondern reduziert die psychologischen Tatsachen selbst in historisch-materialistischer Weise, ordnet also die Psychologie an einer bestimmten, schon von Marx angedeuteten Stelle der Lehre von den gesellschaftlichen Vorgängen ein, nämlich an einer Stelle, wo bisher, mangels einer dialektisch-materialistischen Psychologie, eine Lücke klaffte.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 1, S. 70-73


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J.H. Leunbach:
Religion und Sexualität

Im Kampfe gegen Kirche und Religion werden verschiedenartige Methoden angewandt. Die gewöhnlichste Methode ist die, an Verstand und Vernunft der Menschen zu appellieren, indem man darüber aufklärt, wie unsinnig und unwahrscheinlich die religiösen Vorstellungen und Lehrsätze sind. Seit Jahrtausenden haben Menschen von überlegener Intelligenz die religiösen Ideen verhöhnt und zergliedert, haben klar und logisch die religiösen Behauptungen widerlegt. Dennoch haben sie nicht verhindern können, dass die grosse Masse der Völker sich an die Religion hält und sich von der Kirche leiten lässt.

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Eine etwas grössere Wirkung darf man der Entwicklung der Wissenschaften zuschreiben. Von Anfang an hatten die Religionen die Aufgabe auf sich genommen, die vielen Phänomene des Daseins zu erklären, und zwar speziell die Naturkräfte, deren Beherrschung so notwendig ist, wenn die Menschen ihre Existenz sichern wollen. Auf diesem Gebiet hat die Naturwissenschaft nach und nach die Religion fast völlig ersetzt.

Diese Entwicklung hat viel dazu beigetragen, die Bedeutung der Religion abzuschwächen, hat sie aber nicht abgeschafft. Nur ein einzelnes Gebiet -- gewiss ein wichtiges -- ist so der Religion abgenommen worden. Die Kirche hat es immer verstanden, sich mit der Tatsache abzufinden, dass die Naturwissenschaften die richtigeren Erklärungen des Daseins herbeischaffen. Der eigentliche Kern der Religion wurde dadurch nicht zerstört.

Die Feststellung Kopernikus's, dass die Erde nicht der zentrale Punkt der ganzen Welt sei, war gewiss ein harter Schlag für die Religion, und es sind Jahrhunderte verlaufen, bevor die Kirche das Kopernikanische System angenommen hat. Jetzt, nachdem das geschehen ist, denkt kein Mensch daran, seine religiöse Überzeugung dadurch stören zu lassen, dass die Erde um die Sonne kreist.

Ein viel härterer Schlag für die Religion war die Feststellung der organischen Entwicklung durch Darwin. Dadurch wurde der Mensch den Tieren gleich gestellt. Die Kirche hat diesen Schlag noch bei weitem nicht überwunden. Darwin wird aber sicher auch einmal verdaut werden. Die Kirche hat ja -- wie bekannt -- einen guten Magen.

Weit gefährlicher für die Kirche ist es, dass der Entwicklungsgedanke auch auf die Religion selbst angewandt werden kann. Es ist dadurch möglich festzustellen, dass die jetzigen Religionsformen aus einem allmählichen Entwicklungsprozess hervorgegangen sind und also keinen mystischen, göttlichen Ursprung haben. Diese Feststellung sollte -- rein vernunftgemäss -- genügen, um jeden religiösen Glauben zu erledigen.

Wenn dennoch die Religion trotz allen todbringenden Schlägen, die gegen sie geführt werden, gar nicht zum Sterben bereit ist, ist dies nur so zu erklären, dass in der Tiefe der menschlichen Seele sich ein Kern befindet, der von allen diesen intellektuellen Waffen nicht getroffen wird.

Erst die Tiefenpsychologie der neueren Zeit, speziell die Psychoanalyse, hat es zu Stande gebracht, den psychologischen Kern der Religiosität aufzudecken; nämlich jene Erscheinungen des menschlichen Seelenlebens, welche bei den einzelnen Menschen die religiösen Gefühle und Vorstellungen aufrechterhalten und entstehen lassen.

Der Inhalt bewusster Vorstellungen steht seit dem Durchbruch der Wissenschaften in unversöhnlichem Widerspruch mit den religiösen Ideen. Die Psychoanalyse hat aber entdeckt, dass das Unbewusste eine viel grössere macht über die Menschen hat als der bewusste Vorstellungsinhalt.

Die Analysierung religiöser Menschen hat ergeben, dass die Religiosität auf zwei psychischen Zustaänden fusst, die bewusst und unbewusst bei fast allen menschen vorhanden sind, nämlich auf der Angst und dem Schuldgefühl.

Die Angst treibt die Menschen dahin, dass sie Schutz bei Gott suchen, den man als "allmächtig" und "allgut" sich vorstellt. Je kleiner, ohnmächtiger und ängstlicher der Mensch sich fühlt, um so grösser und mächtiger muss der Gott sein, unter dessen Schutz er stehen möchte. Wenn aber der Glaube an diesen Gott nicht genügend felsenfest ist, wird der angsterfüllte Mensch seinen Schutz suchen bei greifbareren Mächten wie der Kirche oder der Glaubensgemeinschaft, die leichter als der ferne Gott die sicheren Mächte der Kindheit, nämlich die Eltern, ersetzen können.

Die Menschen fürchten aber -- wegen des Schuldgefühls-- dieselben Mächte, bei denen sie Schutz suchen. Deshalb demütigen sie sich vor ihrem Gott, vor ihren himmlichen und irdischen Autoritäten. Sie streben danach, ihre Schuld zu sühnen, damit sie Sicherung und Befreiung von der Angst erreichen können.

Dieses bewusste und unbewusste Angst- und Schuldgefühl bildet die psychologische Grundlage der Religion. Die Kirche vertritt die organisierte Ausbeutung dieser psychologischen Zustände.

Selbstverständlich ist die Kirche in höchstem Masse an dem Schuldbewusstssein der Menschen interessiert und versteht es meisterhaft, es auszunützen. Die katholische Kirche ist in dieser Beziehung der protestantischen weit überlegen.

Wissenschaftliche Bildung und das Erkennen der Widersinnigkeit der religiö-

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sen Dogmen machen es sehr vielen Menschen schwierig, ihren Kinderglauben festzuhalten; zu irgendeinem Zeitpunkt tritt eine mehr oder weniger schmerzhafte Krise auf, und sie verlieren den Glauben an die Religion, mit der sie erzogen worden sind. Danach werden sie anscheinend indifferent, oder sie werden Atheisten, Sozialisten oder "Kulturbolschewiken". Die meisten glauben nun, sie seien fertig mit jeder Religion. Leider haben sie sich geirrt! Die psychologische Grundlage, die unbewussten Angst- und Schuldgefühle sitzen unverändert fest in den Tiefen ihrer Seele. So lange dies der fall ist, ist das religiöse Bedürfnis nicht verschwunden. Diese Menschen bilden sich ein, sie hätten sich von der Religion befreit, aber in Wirklichkeit haben sie nur die Religion gewechselt.

Einer, der auf diese Weise Kommunist geworden ist, könnte unter anderen äusseren Bedingungen ebensogut Spiritist geworden sein. Von unserem Standpunkt aus scheint es besser zu sein, dass ein Mensch religiöser Sozialist wird, als wenn er sich zum Spiritismus oder Christentum bekennt. Es ist aber für den Klassenkampf äusserst gefährlich, wenn zu viele Menschen auf diesem Wege zum Sozialismus kommen. Man hat in solchem Fall keine Garantie, dass sie nicht nochmals die Religion wechseln.

Gerade dies ist in Deutschland geschehen. (Siehe: Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus). Der Mittelstand und ein Teil des Proletariats sind Opfer der Nazi-religion geworden, die es verstanden hat, das religiöse Bedürfnis der Massen ihren reaktionären Zielen dienstbar zu machen.

Wer eine völlige Überwindung aller Religion erreichen will, muss mit seinem Angriff bei der religiösen Grundlage in den einzelnen Menschen einsetzen und versuchen, die Angst und das Schuldgefühl zu beseitigen.

Diese Aufgabe war bis vor kurzem nicht erkannt. Jetzt kann die Psychoanalyse, und speziell die sexualökonomische Richtung Wilhelm Reichs, den Weg zeigen. Nun weiss man nämlich, dass Angst und Schuldgefühl aus verdrängter Sexualität entstehen.

Reich hat psychologisch und physiologisch nachgewiesen, dass die Angst ein direkter Ausdruck der aufgestauten Sexualität ist. Schuldgefühl entsteht nicht nur aus Reue wegen ausgeführter Sexualhandlungen, sondern auch aus verdrängtem Geschlechtstrieb, also aus unbewussten Wünschen nach noch nicht begangenen Sexualhandlungen.

Angst sowohl als Schuldgefühl werden von den ersten Jahren ab den Kindern eingepaukt mittels Verboten und gewaltsamer Unterdrückung ihres Geschlechtstriebes. Der Trieb wird in die unbewussten Tiefen der Seele völlig verdrängt (dem Bewusstsein ferngehalten).

Keine bewusste Erinnerung bleibt übrig. Allein Angst und Schuldgefühl fassen tief Wurzel in der Seele. Auf den späteren Altersstufen werden die Angst und das Schuldgefühl immer erneu[er]t mittels neuer Verbote und Verdrängungen. Bei der Jugend durch Enthaltsamkeitsforderung ("Reinheit") und bei den Erwachsenen, indem ihre Sexualität durch Ehe, Familie, Angst vor unerwünschter Nachkommenschaft, Moral usw. begrenzt wird.

Mittels einer Pschoanalyse wird es möglich, die unbewussten, verdrängten Wünsche aufzudecken, welche Angst und Schuldgefühl erzeugen. In vielen Fällen war es möglich, nicht nur das Unbewusste bewusst zu machen, sondern auch die Angst und das Schuldgefühl zu beseitigen.

Wenn dieses bei einem Analysanden gelingt, der vor der Analyse religiös war, stellt es sich heraus, dass er nach vollendeter Analyse von seiner Religiosität befreit ist, selbst wenn der Analytiker keinen Versuch gemacht hat, ihn in dieser Beziehung zu beeinflussen.

Dadurch erhält man den Beweis, dass Angst und Schuldgefühl die psychologische Grundlage der Religiosität bilden. Mit dieser Grundlage verschwindet die Religion wie der Tau im Sonnenschein.

Wahrscheinlich hat die Religiosität dieselbe Grundlage bei allen Menschen, jedenfalls in unserem Kulturkreis. Daraus kann man folgern, dass eine wirkliche Bekämpfung der Religion nur darin bestehen kann, die Quellen der unbewussten Angst- und Schuldgefühle aufzuspüren und auszutrocknen. Die Urquelle ist die Sexualverdrängung.

Diese Verdrängung kann nur dadurch aufgehoben werden, dass man den Geschlechtstrieb nicht unterdrückt, sondern ihm zur gesunden und natürlichen Befriedigung verhilft. Dann muss man aber eine ganz neue Erziehung einführen,

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die nicht nur jede Unterdrückung der kindlichen Sexualität unterlässt, sondern direkt den Kindern hilft, die Formen einer sexuellen Erlösung zu erreichen, welche den verschiedenen Altersstufen entsprechen. In unserer Zeit ist dies wohl nur der Fall bei Kleinkindern, die durch die Brust der Mutter gestillt werden.

Bei älteren Kindern gilt es, die Onanie und die sexuellen Spiele nicht zu verbieten und zu verhindern, sondern in gesunde Bahnen zu lenken.

Den geschlechtsreifen Menschen muss man mittels Empfängnisverhütung dazu verhelfen, das Geschlechtsleben von der Fortpflanzung trennen zu können, so dass alle Menschen ein wirklich gesundes und glückliches Geschlechtsleben führen können, das keinen Anlass zur Entstehung von Schuldgefühlen gibt.

Ist die Menschheit einmal so weit gekommen, wird jede antireligiöse Propaganda überflüssig. Die Religionen werden von selbst verschwinden. Die Sexualenergie, die der Sublimierung fähig ist, wird für wirklich kulturelle und soziale Ziele verwertet werden können und wird nicht mehr in unnützes religiöses Streben aufgehen.

Im gegenwärtigen antireligiösen Kampf muss man alles fördern, das ein gesundes und glückliches Geschlechtsleben der Menschen erleichtert. Man muss die Menschen davon überzeugen, dass die Religion und die Kirche mehr als alles andere für ihr Geschlechtsleben und Glück verderblich wirken. Sie müssen verstehen lernen, dass die Kirche aus Eigeninteresse dazu gezwungen ist, die Sexualfreiheit zu bekämpfen, dass keiner sich also darüber wundern darf, wenn die Kirche mit aller Macht alle Bestrebungen bekämpfen muss, die den Menschen Sexualfreiheit und Beherrschung der Fortpflanzung schaffen wollen -- dass die Kirche also keine Rücksicht auf Glück und Wohlergehen der einzelnen Menschen nehmen kann, und trotzdem immer zu behaupten versucht, dass sie sich nur um die Seelen der armen Menschenkinder kümmert.

In Dänemark haben 173'000 christliche Frauen eine Adresse an die Regierung unterschrieben, die eine Erhaltung der Abtreibungsbestrafung verlangt. In England fördert der Bischof vob London einen Gesetzvorschlag gegen empfängnisverhütende Mittel. Diese Beispiele genügen, um den Weg zu zeigen, den die Kirche notwendig gehen muss.

Nur mittels des Erkennens der psychologischen Grundlage der Religion, welche die Psychoanalyse entdeckt hat, und mittels eines sexualpolitischen Programms kann man die Religion so bekämpfen, dass man einen endgültigen Sieg erhoffen kann. Wobei die Erkenntnis notwendig ist, dass dieser endgültige Sieg erst durch die soziale Revolution gesichert wird, die ihrerseits voraussetzt, dass das Proletariat die politische Macht erobert hat.


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